Ein Interview über Wochen per E-Mail
mit Jelena, Simon, Magnus, Carla und Ivo
ohne Leonie, Levi, Bela, Toni, Kolja und Rosalie
Almut: Liebe Jelena, lieber Simon, lieber Ivo, lieber Magnus, liebe Carla, seit über einem Jahr lebt ihr gemeinsam mit euren insgesamt sechs Patchwork-Kindern in einem alten, mehrstöckigen Gutshaus in der Nähe von Potsdam. Ihr seid ein Paar mit vier Patchwork-Kindern, ein weiteres Paar mit zwei Patchwork-Kindern und ein Mensch ohne leibliche Kinder. Gemeinsam seid ihr eine Kerngruppe, die sich als Kommune betrachtet, während ein Stockwerk drüber und quer über den Hof noch acht Erwachsene und fünf Kinder eurer erweiterten Hausprojektgruppe einziehen werden. Ihr seid dann insgesamt 16 Erwachsene und 13 Kinder. Euer Haus ist bereits komfortabel fertig renoviert, aber als Hausprojektgruppe steckt ihr mitten im Bauprozess, um die alte Scheune zu Wohnraum für den Rest der Hausprojektgruppe zu machen. ›Nebenbei‹ seid ihr alle berufstätig. Das klingt völlig irre. Wie kann das noch schön sein?
Carla: Zu der Frage, wie unser Leben noch schön sein kann … hihi … ich finde es wunderschön. Klar, es ist viel los, aber es gibt auch immer wieder tolle Momente. Oft sehe ich das an unseren Kindern, wie sie immer autonomer werden und sich an die Erwachsenen wenden, die nicht ihre bisherigen Hauptbezugspersonen sind. Sie lieben den Garten und unsere Kaninchen und spielen miteinander, sodass wir sie manchmal erst wieder beim Abendessen sehen. Auch für uns Erwachsene finde ich es toll, nicht nur mit meinem Partner zu leben, sondern mit Freund*innen und Menschen, die mir sehr am Herzen liegen. Im Konfliktfall unterstützen wir uns und auch wenn eine*r viel zu tun hat, übernehmen die anderen häufig mal die Kinderbetreuung oder andere Repro-Arbeit (d.h. Haushalt, Kinderbetreuung). Und das ganz spontan, ohne sich lange vorher zu verabreden. Und finanziell ist es durch die gemeinsame Ökonomie eh nochmal ein ganzes Stück entspannter … wir arbeiten gerade alle fünf, sodass wirklich einiges übrig bleibt, sodass wir unsere Darlehen für das Haus gut abzahlen können.
Jelena: Schön ist z.B., auf dem Land zu leben und hier nicht als Kleinfamilie hergezogen zu sein. Das war für mich die beste Entscheidung der letzten Jahre. Ich bin so froh, dass ich nicht mehr auf Spielplätzen rumhänge und mich frage, was ich da eigentlich tue. Wenn ich nachmittags zu Hause bin, gehe ich mit den Kindern raus auf den Hof. Wir bauen, ernten, sitzen am Feuer, kümmern uns um die lang ersehnten Haustiere. Es ist für mich ein entspannteres Miteinander (zwischen Groß und Klein), weil wir in dem Draußen-tätig-Sein gemeinsam (unterschiedlichen) Sinn kreieren. Oft sind andere Kinder als Spielgefährt*innen da … – etwas Wunderbares, was Gemeinschaft mit sich bringt. Ich muss das Kindermiteinander viel weniger organisieren. Das entlastet mich in dem großen Aufgabenhaufen, den wir gerade stemmen. Ich freue mich auch, dass ich nur noch ein Mal in der Woche kochen muss.
Trotzdem ist es alles in allem ganz schön viel. Vor allem, weil zu dem Bau, den Gruppenprozessen, Kindern und Lohnarbeit auch eine neue politische Realität hinzukam: Das Leben im Dorf ist in dieser Hinsicht ganz anders als in der Stadt.
Magnus: Für mich liegt eine wesentliche Qualität unseres Zusammenlebens hier darin, dass wir Erwerbsarbeit, Familienarbeit, Gemeinwesenarbeit und Entwicklungschancen miteinander verhandeln, um eben nicht das eine gegen das andere auszuspielen. In der Folge muss ich nicht wichtige Lebensbereiche von mir abtrennen. Da war von Anfang an auch Theorie mit an Bord: Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir vor etwa fünf Jahren, damals noch zu viert, im sommerlichen Garten meiner alten Wohnung saßen, umzingelt von den lärmenden Rasenmähern der Nachbar*innen, und uns über den Text Die Vier-in-Einem-Perspektive – Eine Utopie von Frauen, die eine Utopie für alle istvon Frigga Haug austauschten. In meiner Wahrnehmung sind wir gerade auf dem Weg, hier einiges davon zu realisieren. Einiges ist bereits deutlich spürbar, anderes nicht – ich beginne gerade erst, die Privilegien und Möglichkeiten, die sich aus dem Kommuneleben ergeben, zu begreifen. Mein Denken, Fühlen und Handeln hat sich jedoch schon verändert. Die gemeinschaftlichen Aushandlungsprozesse in der Kommune verlaufen stetig, dazu braucht es immer wieder gemeinsame Zeit und Räume, Bereitschaft, sich einzulassen und Konflikte anzusprechen, und auch die Fähigkeit, sich mit scheinbar widersprüchlichen Bedürfnissen und Ansprüchen auseinanderzusetzen und diese auch auszuhalten. Das kostet Kraft, aber verbindet mich auch stark mit den anderen. Eine solche Kultur haben wir zum großen Teil schon vor dem Umzug aufs Land miteinander entwickelt und praktiziert.
Ich habe zum ersten Mal nach der Geburt meiner beiden Kinder wieder innere und äußere Kapazitäten, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, ohne dass ich das Gefühl habe, meine Kinder zu vernachlässigen oder all meine Ansprüche, gesellschaftlich aktiv zu sein, entweder zu vernachlässigen oder mich durch sie zu überlasten. Ich gestalte mein Leben. Ich habe das Gefühl, wieder mehr Freiräume für eigene politische Bildung, Diskussionen und auch Aktionen zu haben, und sehe aktuell auch die Möglichkeit, langfristig politisch hier an diesem Ort zu wirken. Und ich habe den ökonomischen Luxus, genauer prüfen zu können, ob meine Tätigkeit an einer freien Schule wirklich sinnhaft ist. Ich fühle mich weniger ökonomisch und emotional erpressbar, ich kann beruflich mehr Kante zeigen, weil Risiken in unserer Gemeinschaft abgefedert werden und auch ein zusätzlicher Reflexionsraum im Alltag und bei unseren Kommunetreffen entstanden ist. Das ermutigt mich zu mehr Integrität in meinem Handeln außerhalb der Grenzen unserer Gemeinschaft.
Almut: Es klingt schön, dass die Kinder auch miteinander eine Gemeinschaft bilden. In meinem Kopf ist es eine sehr romantische Vorstellung, mit vielen großen und kleinen Menschen an einer Tafel versammelt gemeinsam zu essen. Kann aber auch stressen – oder? Eure Kinder sind 13, 12, 8 und 3 Jahre alt (Leonie, Toni, Levi, Bela), bzw. 10 und 8 (Rosalie und Kolja). Habt ihr eure Erziehungsvorstellungen ›synchronisiert‹ oder prallen da auch manchmal unterschiedliche Erziehungsstile, Essensregime, Rhythmen und Befindlichkeiten aufeinander?
Carla: Mich stresst es gar nicht so selten. Weniger die Unterschiedlichkeiten – ich finde, wir begleiten unsere Kinder ziemlich ähnlich – mehr die Lautstärke. Eine Regel ist inzwischen, dass die Kinder entweder am Tisch sitzen und essen oder nicht in Sichtweite der essenden Kinder spielen. Das hat schon einiges entspannt. Auch haben wir nach einigen Monaten die Essecke und die Spielecke räumlich voneinander getrennt. Unterschiede in der Kinderbegleitung sehe ich v.a. bei der Einbindung in Repro-Aufgaben, da könnten wir uns noch mehr abstimmen. Im Hinblick auf den Rhythmus haben wir uns aufeinander eingependelt, eine*r von uns fünf Erwachsenen kocht immer an einem Wochentag zu 18 Uhr für alle. Das ist prima und klappt gut.
Zu den Befindlichkeiten: Wir haben noch eine mittelgroße ›Ausweichküche‹, falls jemand alleine oder zu zweit essen will. Das ist gut zu wissen, wird aber fast nie genutzt. Und wir haben jetzt einen großen Tisch auf der Terrasse, an dem es viel angenehmer ist.
Jelena: Als Gruppe sind wir ja schon lange miteinander unterwegs (zwei bis fünf Jahre), aber tatsächlich zusammengezogen sind wir vor einem Jahr im August. Ich weiß noch, dass der erste gemeinsame Herbst für mich richtig anstrengend war. Ich hing damals stark an der Frage, ob nicht eine Familienwohnung besser gewesen wäre als ein Zimmer neben dem großen Gemeinschaftsraum wie jetzt. Das hat nicht so viel mit Erziehungsdifferenzen zu tun, sondern damit, dass wir uns im Zusammenleben alle erst aneinander gewöhnen mussten. Und gerade auch die Kinder.
Erziehungsdifferenzen sind manchmal schwer auszuhalten, aber Konflikte zwischen den Kindern für mich auf jeden Fall noch schwerer. Weil es da schnell passiert, dass jede ihr eigenes Kind schützen will und den Blick oder das Verständnis für die Bedürfnisse der anderen Kinder verliert. Als ich Magnus kennengelernt habe, war ich gleichermaßen beeindruckt von seiner Kinderbegleitung wie auch irritiert: So viel Zuwendung, Intervention, Schoßzeit, Weinzeit – das war ich nicht gewohnt. Einiges hab’ ich da gelernt, anderes war mir zu viel. Aber das war für mich eher Thema, als wir noch nicht zusammengelebt haben und miteinander in den Urlaub fuhren – wums, da sind unsere Systeme manchmal aneinandergerasselt.
Wenn ich auf das Jahr zurückschaue, hat es sich richtig gut entwickelt. Die Kinder sind vertraut miteinander und ich bin mit Magnus’ Kindern sehr zusammen gewachsen, sie fühlen sich schon ein Stück weit auch wie meine Kinder an und ihre Nähe ist für mich selbstverständlich und schön. Auch im Zusammenleben mit meinem Partner Simon hab’ ich Neues dazugelernt: Eine ›vorbereitete Umgebung‹ – ich weiß jetzt, was das bedeutet, und schätze es sehr wert.[1] Trotzdem bin ich nicht diejenige, die sich die Zeit nimmt, das Material bereitzustellen. Da bin ich schon sehr froh über die Synergien. Dafür hängen die Kinder öfters einfach mit mir ’rum und wir machen zusammen, was so anfällt.
Ich glaube auch, dass wir Spannungen, die durch verschiedene Erziehungsstile ausgelöst werden, durch einen guten Kontakt miteinander abdämpfen. Das ist natürlich auch Arbeit, immer wieder die Räume zu schaffen, wo wir Erwachsenen uns klären können. Und in den Grundideen sind wir uns ja einig, das ist anders, als wenn ich mit meiner Oma am Tisch sitzen würde.
Magnus: Ich sehe v.a. die Vielzahl zugewandter Erwachsener, bei denen die Kinder unterschiedliche Handlungs- und Verhaltensmodelle finden. Das relativiert das ganz normale neurotische Verhalten des Vaters (also meins). Und ich kann meine emotionale Verstrickung oft besser sehen, da mir mein Verhalten von den anderen Erwachsenen und Kindern gespiegelt wird – gern auch ungefragt, z.B. wenn ich meinen Sohn zum dritten Mal frage, ob er nicht noch eine Kelle mehr Suppe haben möchte und mir jemand spiegelt: »Magnus, Kolja hat schon drei Mal ›Nein‹ gesagt«.
Momentan sehe ich für mich die Herausforderung, Zeit im Alltag zu zweit oder zu dritt mit meinen Kindern zu haben – das gilt im Übrigen auch für meine Kommunauties. Oft kommen wir erst beim Insbettgehritual in intensiveren Kontakt, beim Zähneputzen, Massieren, Vorlesen und Erzählen. Oft sind viele alltägliche Dinge zu erledigen und ich bin von der Fülle auch überfordert und dann abwesend. Ich habe da aber Vertrauen in mich und uns und kann mir hier tolle Techniken von den anderen abschauen, z.B. dass ich mich nun häufiger mit meinen Kindern für konkrete Zeiten und Aktivitäten verabrede.
Manchmal ist die Situation so, dass die Kinder einander wie Magnete anziehen. Wenn ich z.B. mit ihnen nach der Schule am Haus ankomme, dann verschwinden sie aus meinem Blickfeld. Das passiert beispielsweise, wenn sie sich eine Woche aufgrund der Patchwork-Zusammenhänge nicht gesehen haben. Das braucht oft aber auch Begleitung, weil sich die Kinder erst wieder aufeinander eingrooven müssen. Mittlerweile bin ich entspannter geworden, auch wenn andere Erwachsene aus der erweiterten Hausgemeinschaft die Kinder nicht so ›eng‹ begleiten, wie ich es mir wünschen würde. Den Kindern sind also je nachdem, wer sie begleitet, unterschiedliche Grenzen gesetzt und es entstehen unterschiedliche Erfahrungsräume. Es kommt vor, dass die Kinder mit den Aushandlungsprozessen von Ein- und Ausschlussdynamiken überfordert sind. Das tut auch weh. Schwierig fände ich es, wenn wir da zu einheitlich hantieren und uns zu sehr aneinander anpassen würden. Auch in meiner Arbeit als Pädagoge an der Schule finde ich es eigentlich gerade gut, wenn der Umgang mit Kindern nicht synchronisiert ist, sondern Kinder erfahren dürfen, dass Erwachsene nicht alle gleich sind und deshalb auch unterschiedlich denken und entscheiden. Das ist natürlich das direkte Gegenteil von der herkömmlichen Erziehungsvorstellung, dass Erwachsene immer mit einer Stimme sprechen müssten.
Almut: Carla und Ivo, ihr habt beide keine leiblichen Kinder. Habt ihr den Anspruch, für eure Kommune-Kinder auch Eltern zu sein? Und wie geht euer Anspruch mit der Wirklichkeit zusammen?
Carla: Ich wollte nie eigene Kinder und bin jetzt häufig überrascht und auch überfordert von so viel geballter Kinder-Energie. Ich ziehe mich häufig raus und mache z.B. nur in Ausnahmefällen die Kinderbegleitung bei Gruppenwochenenden. Ich habe für Rosalie und Kolja (die leiblichen Kinder von meinem Partner Magnus) die Rolle der Bonus-Mama und finde mich darin sehr zugewandt, liebevoll und bezogen. Auch bringe ich einige Qualitäten mit, die in der vorherigen Kleinfamilie nur wenig ausgeprägt waren, sodass ich mich da als große Bereicherung empfinde. Bei den anderen Kommunekindern ist es sehr unterschiedlich, obwohl ich bei keinem das Wort ›Eltern‹ benutzen würde und auch kein solcher Anspruch besteht. Ich bin maximal eine weitere erwachsene Bezugsperson und auch das eher selten. Bela kenne ich seit seiner Geburt und inzwischen ist meine Wahrnehmung, dass ich für ihn selbstverständlich bin und sowas wie ›Zuhause‹ symbolisiere. Mal sehen, wie sich unsere Beziehung entwickelt. Für Levi bin ich vor allem ein weiterer Bezugspunkt, der ihm Grenzen aufzeigt und versucht, liebevoll und zugewandt zu bleiben, was mir mal so mal so gelingt. Ich habe immer wieder die Fantasie, mal eine Woche mit ihm alleine wegzufahren, bisher hab’ ich das aber noch nicht gemacht. Mit Toni habe ich eigentlich gar keinen Kontakt, außer Hallo und Tschüss. Mit Leonie verändert es sich gerade. Umso mehr pubertäre Abgrenzung bei ihr zu ihrer Mutter Jelena stattfindet, umso mehr habe ich das Gefühl, als weitere erwachsene anwesende Frau* für sie interessant zu sein. Ich merke aber schon, dass ich den Kommunekindern wesentlich offener und entspannter gegenüber bin als den anderen Kindern in der Genossenschaft, die habe ich schließlich ›mitgeheiratet‹.
Insgesamt hat sich meine Haltung zu den Kindern auch in den letzten 1,5 Jahren verändert … ich bin von der Einzel-Keller-Wohnung auf die Etage von Jelena und Simon und ihren Kindern gezogen und werde demnächst zu Magnus, Rosalie und Kolja in die Wohnung ziehen. Da ist viel Raum für Veränderung und es wird sich bestimmt auch durch Aus-/Umzüge und neue Kinder immer weiter einiges verändern. Manchmal freue ich mich auf den Zeitpunkt, zu dem alle Kinder ausgezogen sein werden, aber das dauert wohl noch ein paar Jahre.
Ivo: Anspruch und Wirklichkeit treffen sich bei mir kaum. Ich gehe wenig in die Initiative, was alleinige Verantwortung für die Kids angeht. Ich kann mich erinnern, Levi ein Mal aus dem Hort abgeholt zu haben. Ich meine, Kolja und/oder Rosalie mal vor längerer Zeit morgens gebracht zu haben. Mir schwebt auch immer mal eine Alleine-Zeit mit den Kids und da besonders Levi vor, dem ich mich irgendwie verbundener fühle. Allgemein würde ich sagen, dass ich eine feste Bezugsgröße im Alltag für die Kinder bin, ohne besondere Verantwortung. Bela freut sich sichtlich, wenn er mich nach längerer Zeit mal wiedersieht. Für Leonie bin ich schon Ansprechperson zur Unterstützung gewesen, beim Computer- oder Fahrrad-Reparieren. In dem Sinne empfinde ich mich durchaus als Bereicherung der Lebenswelt der Kids. Wir haben vor Kurzem bei uns Geschichtenzeitabende für das ganze Haus eingeführt. Dort erzählen und lesen vor allem die Erwachsenen den Kindern Geschichten vor. In diesem strukturierten und ruhigen Raum hab’ ich den Eindruck, durch meinen Beitrag präsenter für die Kids zu sein. Gleichzeitig hab’ ich dann oft die Muße, die Kinder genauer zu beobachten. Sie sind mir dann näher. Das passt gerade besser zu meinen Ressourcen als die Mischung von mehreren bis vielen Kleinkindern abends zum Abendbrot, die mich nach der Lohnarbeit meist arg anstrengt.
Almut: Als Kommune habt ihr euch ja entschieden, euer ganzes Geld zusammenzuschmeißen, sodass ihr nur noch ein gemeinsames Konto habt und jederzeit mit eurer persönlichen EC-Karte individuell darüber verfügen könnt. Das gilt für euer – sehr unterschiedliches – Einkommen aus der Erwerbsarbeit, ihr zieht aber sogar auch in Erwägung, euer zukünftiges Erbe zu vergemeinschaften (z.B. ein Ferienhaus). Wie empfindet ihr es persönlich, eine solche finanzielle Abhängigkeit eingegangen zu sein? Habt ihr manchmal auch Angst vor den Konsequenzen dieses Schritts? Und gibt es Momente, wo ihr sagt: »Dein Kind hat viel zu teure Geschenke bekommen«? Oder: »Warum hast du dir schon wieder neue Schuhe gekauft?« Oder: »Ich will nicht dafür arbeiten müssen, dass du Urlaub auf Mallorca machst!« Oder, oder, oder.
Carla: Wir haben nicht ein gemeinsames Konto, sondern jede*r hat ihr eigenes Konto und wir haben gegenseitig Vollmachten für all unsere Konten, sodass wir jederzeit auf das Konto einer anderen zugreifen und Überweisungen machen können. Darüber hinaus haben wir einen Verein gegründet, der die Hauptanteile an der Genossenschaft, der unser Haus gehört, trägt und der viele Privatdarlehen aufgenommen hat, um diese Anteile zu finanzieren. Über den Verein sind wir also zusammen für unser ›Vermögen‹ (d. h. die Genossenschaftsanteile) und unsere Schulden verantwortlich. Und wir ziehen nicht in Erwägung, sondern teilen tatsächlich schon unser zukünftiges Erbe und Vermögen. Wir haben Verträge miteinander, in denen dies und unser eventueller Ausstieg aus der Kommune geregelt ist. Unser monatliches Einkommen aus Erwerbsarbeit liegt bei uns allen jeweils zwischen 1.300 € und 2.000 €. Dazu kommen noch Kindergeld und Wohngeld. Mir persönlich geht es sehr gut mit diesem Schritt. Ich lebe fast durchgängig, seit ich von zu Hause ausgezogen bin, in ›gemeinsamen Ökonomien‹ – immer wieder mit unterschiedlichen Menschen – und finde, dass das die beste Möglichkeit ist, dem kapitalistischen Leistungsdruck zu begegnen. Wir haben auch die Freigrenze von 200 € pro Anschaffung, wenn etwas mehr kostet, sprechen wir auf dem Plenum darüber. Alles, was darunter ist, macht jede*r mit sich selbst aus. Ärger über Ausgaben der anderen hab’ ich eigentlich nie. Manchmal wundere ich mich, aber dann kläre ich das meistens und bin wieder fein damit. Ich finde toll, dass wir uns gemeinsam viel leisten können, was wir einzeln nicht stemmen würden: Weiterbildung, Auto, Haus, etc.
Simon: Ja, wie geht es mir damit, mich finanziell verwoben zu haben? Gut! Ich wollte es so. Ich will und wollte Verbindlichkeit in meinem Leben. Verbindliche Beziehungen zu Menschen, groß und klein, und verbindliche Beziehung zu einem Ort. Hier will ich leben: wurzeln und wirken. Mich mit meinen Mitkommunard*innen fest verbinden: in dem Aufbau eines gemeinsamen Zuhauses samt Kultur, im gemeinsamen Aufziehen der Kinder und im gemeinsamen Wirtschaften. Faktisch muss ich gerade so wenig wie noch nie auf den Euro gucken. Das liegt einerseits an unserer privilegierten Lage (wir leben in Deutschland, sind weiß, um die 30/35 Jahre alt, haben Uni-Abschlüsse und keine armen Eltern), andererseits an uns Einzelnen und unseren Arbeitsverständnissen und zu einem Teil auch an unserer gemeinsamen Ökonomie, glaube ich.
Es fühlt sich an wie ein stabiles Fundament. Ich freue mich gerade richtig über unser letztes Kommunetreffen. Da ging es um die Frage, ob Magnus eine weitere Fortbildung macht, die viel Zeit in Anspruch nehmen würde, sodass er sehr wenig bei uns sein kann. Ich habe bei unserem Treffen gemerkt, dass mich die Frage »Ausbildung ja oder nein?« berührt, weil ich gemerkt habe, wie ich Magnus vermisse – als Freund, als Partner im Aufbau unseres Zuhauses und als politischen Genossen. Wir haben überlegt: Wofür ist die Fortbildung wichtig? Muss es jetzt sein? Letztlich wird er die Fortbildung zu dem jetzigen Zeitpunkt nicht starten, weil gerade die Baustelle läuft, weil Ivo und Carla in einer laufenden Fortbildung stecken und weil auch Jelena in einigen Monaten eine neue Ausbildung beginnen will. Das Großartige: Da wir zu fünft gemeinsam wirtschaften, können Arbeitszeitreduzierungen, Fortbildungen und Ausbildungen der Einzelnen ermöglicht werden; nicht alles auf einmal, sondern in Stufen und zeitversetzt.
Als Gruppe über individuelle Lebensentscheidungen zu diskutieren, das klingt vielleicht nach ›Kollektiv über Individuum‹, aber irgendwie haben wir es geschafft, dass das grundsätzliche Wohlwollen sowohl gegenüber der*m Einzelne*n als auch der Kommune gegenüber spürbar ist.
Zum Urlaub fällt mir ein: Dieses Jahr waren Magnus und Carla drei Wochen in Schweden. Und das noch zu Beginn der großen Baustelle. Hah! Da war ich zuerst empört, fühlte mich im Stich gelassen. Dann spürte ich meinen Neid. Mein Umgang damit: Nächstes Jahr mache ich das auch.
Ich weiß nicht, ob unser gemeinsames Wirtschaften gut klappen würde, wenn wir deutlich weniger Geld hätten und somit mehr Diskussion kommen könnte. Und andererseits geben wir alle keine Riesensummen aus, haben Sparsamkeit von den Eltern gelernt. Spannend wird es werden bei Jobverlust, Krankheit oder jahrelangen Reisewünschen. Na mal sehen!
Ivo: Viele Dinge bleiben bei mir derzeit unerledigt liegen, diese E-Mail wartete wochenlang darauf, abgeschickt zu werden. Das ist der Normalfall, seit ich 40 Stunden die Woche lohnarbeiten gehe. Schon vor Jahren habe ich meine Mitmenschen belehrt: »Man muss sich schon entscheiden, entweder politisch motivierte Gemeinschaft oder Lohnarbeit. Vollzeitarbeit und Kommune vertragen sich nicht.« Heute sage ich: Genau so ist es. Ab November sind es nur noch 30 Stunden. Meine Mitkommunard*innen haben ein aufrichtiges Interesse an meiner Person und Anwesenheit. Wir versichern uns dessen auch immer wieder in hart erkämpften Freiräumen wie Community Building[2] oder Kommune-Treffen. Der Wunsch und die Forderung nach meiner Anwesenheit helfen mir, mich nicht von der ›Bedeutungsmaschine Lohnarbeit‹ auffressen zu lassen. Ich halte mich für sehr empfänglich für ihr Versprechen »Du bist wichtig, arbeite doch noch ein bisschen mehr«. Dieser Anziehungskraft bin ich hier nicht allein ausgeliefert, sondern das muss ich mit der Kommune aushandeln. Alle zusammen sind wir viel wirksamer und vollständiger, als ich mir das in einer Kleinfamilie vorstellen kann. Das Leben in der Kommune und die gemeinsame Ökonomie sind anstrengend und entlastend zugleich. Sie fordern eine Menge Selbstauseinandersetzung, weil nur wenige Ausreden gegenüber so vielen Perspektiven Bestand haben. Für (Selbst-)Betrug lässt die Nähe keinen Raum. Ich kann nur ehrlich sein. Nach unseren Momenten des Austauschs fühle ich mich meist ganz beseelt und kann die Sinnhaftigkeit unserer Entscheidung in mir spüren. Ich betrachte mich auf der sozialen Ebene gerade als wenig gebend in unserer Kommune und auch in der Großgruppe. Ich übernehme wenige Aufgaben. Gerade, was die Reproarbeit angeht, kann ich mich aktuell mit mäßig gutem Gewissen, aber transparent für alle, auf der Gemeinschaft ausruhen. Dasselbe gilt für die Verwaltungsarbeit: sowohl hinsichtlich der Kommune (Darlehensverwaltung der gemeinsamen Ökonomie) als auch der Großgruppe (Verwaltung der Genossenschaft, Baustellentätigkeit).
Finanziell trage ich noch bis zu meiner Stundenreduktion einen der größten Anteile bei. Daran knüpfen sich wiederum Felder der (Selbst-)Auseinandersetzung: Was passiert mit ›meinem Geld‹? Wofür und wie geben wir das Geld aus, wofür ich so viel arbeite/arbeiten muss? Loslassen, Vertrauen, Mitgefühl und Verständnis – das lässt sich hier bestens lernen. Auch miteinander müssen wir uns immer wieder austauschen, ob unsere Aufteilung der Arbeiten sinnvoll ist, wo Frustration entsteht, wo wir Filme aufeinander schieben und was wir wollen. Wir brauchen viel Kommunikation. Anders kann ich es mir auch nicht vorstellen.
Der Alltag fällt bei uns vereinzelter aus, als sich auf den ersten Blick von einer Kommune erwarten ließe. Ich finde, wir sind stark nach außen orientiert: Wir gehen alle einer Lohnarbeit außerhalb unserer eigenen Zusammenhänge nach, wobei einige langfristig davon träumen, gemeinsam etwas aufzubauen. Ein für mich wichtiges Anliegen bleibt bis jetzt auf der Strecke: politisch sein. Mit meiner Antifa-Sozialisierung fällt es mir anhaltend schwer, in der langwierigen Aufbauarbeit dieses Raumes eine politische Tätigkeit zu sehen. Immer wieder nagt an mir das Gewissen, dann doch nur an einem selbstsüchtigen Schöner Leben 2.0 zu basteln. Zumindest für die früheren Akte der politischen Selbstvergewisserung wie Themenpolitik (Aufklärungsarbeit, Infoveranstaltungen, Kampagnen), Freiraumpolitik (Selbsthilfewerkstatt) und Protestpraxis (Demoteilnahme, Nazi-Blockaden) ist kein Raum mehr. In der aktuellen Phase lassen meine Ressourcen das nicht zu. Die Lohnarbeit macht Arbeit, unsere Lebensform macht Arbeit, so ein Grundstück macht Arbeit – wo bleibt die Entspannung? Was unsere Kinder gerade am wenigsten von uns lernen, ist wahrscheinlich der Müßiggang. In dieser Zeit des Rechtsrucks stelle ich mir dann immer wieder die Frage, ob so ein behäbiges Vorhaben wie das unsere nicht zu viele Kräfte von den wirklich wichtigen Auseinandersetzungen abzieht. Oder ob es eben gerade das Richtige und Beständige sein kann.
Carla: In Reaktion auf Ivos Mail will ich gerne zwei Sachen ergänzen. In Bezug auf Müßiggang: Ich finde uns da gar nicht so schlecht. Wir haben vor zwei Jahren zusammen einen Saunawagen gebaut und der wird rege genutzt. Da sind die Kinder auch liebend gerne dabei und wir entspannen gemeinsam. Letzte Woche hatten wir unseren ersten gemeinsamen Märchen/Geschichten-Abend, an dem wir uns Geschichten erzählt und vorgelesen haben. Das fand ich sehr schön. Und zum Thema Politisch-Sein: Als die AfD das gefühlt zwanzigste Plakat in unserem brandenburgischen Dorf aufhängte, haben wir kurzerhand eine Aktionsgruppe gegründet und die Plakate entfernt. Darüber hinaus haben wir mehr als 1.000 Anti-AfD-Flyer verteilt und einige von uns waren kurz vor der Landtagswahl auf einigen Demonstrationen. Ich finde, dafür, was wir gerade rocken (Kinder, Lohnarbeit, Baustelle, Kommune, Großgruppe), ist das in Ordnung – gerne ausbaufähig, aber in Ordnung.
Almut: Das Verhältnis unter euch Erwachsenen wirkt eingeschworen, voller Sympathie, liebevoll, intim. Können eure Gefühle zu den Kindern der jeweils anderen da sozusagen mithalten oder gibt es da eine Lücke – und wenn ja, ist das problematisch? Überhaupt: Wie definiert ihr jeweils euer Verhältnis zu den Kindern der anderen? In klassischen Familiensettings gibt es ja Rollenbilder, mit relativ klaren Vorstellungen darüber, welchen Platz man im Leben des Kindes hat und welchen Platz das Kind im eigenen Leben hat: Omas und Opas, Onkel und Tanten, Stiefmütter, Cousinen, Cousins, etc. In Hausprojekten und WGs dagegen gibt es: Mitbewohner*innen. Und was sagen die Kinder übereinander? »Mitbewohner*innen«? »Geschwister«? Was ganz anderes?
Simon: Das finde ich auch spannend: Wie wäre es, eine Interviewreihe mit den Kids zu machen?
Du charakterisierst in der Frage den Kontakt zwischen uns Erwachsenen als eingeschworen, liebevoll, intim. Das teile ich nur begrenzt. Eingeschworen ja, intim nur manchmal. Mehr will ich derzeit gar nicht oder kann ich gar nicht. Wie meine ich das? Ich arbeite in einem sozialen Beruf und habe auch privat ständig Kinder um mich. Das ist gut so, aber ich brauche oft Zeiten der Beziehungsferne. Faktisch rede ich dann wenig mit meinen Kommunard*innen oder Gruppenmitgliedern. Meinen sozialen Bedarf habe ich relativ schnell gesättigt. Mit einigen Menschen will ich dann in die Tiefe. Das fühlt sich für andere bestimmt nicht so gut an, aber so ist es gerade. Bei den Kids ist es auch so: Liebevoll und respektvoll will ich zu jedem Kind sein, aber Ressourcen und Lust auf tiefe Beziehung habe ich nur manchmal. Einige Kinder passen irgendwie besser zu mir, bei denen geht es schneller und öfter. Magnus’ Kinder habe ich sehr gern, die sind für mich besonders. Ich glaube, es ist richtig gut, dass wir so unterschiedliche Erwachsene vor Ort haben. Die Kinder erleben eine Vielfalt und sind nicht nur den Stärken und Schwächen ihrer leiblichen Eltern ausgeliefert. Konkret kann mein Kind bei mir anderes sehen und erfahren als bei seinem Vater. Und der Sohn meiner Partnerin umgekehrt. Prima 🙂 Die Kinder nennen die anderen Kinder beim Namen. In meiner Patchworkfamilie sagen einige Kinder übereinander »Geschwister«, andere »Halbgeschwister«. Je nach Familienbild – das unterscheidet sich von Kind zu Kind.
Jenseits der Kommune wohnt in unserem Haus auch eine weitere Familie mit zwei Kindern. Die beiden sind immer da und das macht eine Menge aus. Mein Kleinster [drei Jahre] verbandelt sich richtig doll mit ihnen. Das ist schön und hat eine andere Qualität. Ich liebe deren Eltern weniger, aber die Kids verbringen mehr Zeit miteinander. Mal sehen, was da bei rauskommt 🙂 Über die Zeit habe ich weniger Skrupel, diese Kinder auch mal wegzuschicken, wenn ich meine Ruhe brauche oder wenn meine Kinder einen Ruheraum brauchen.
Almut: Ihr habt teilweise vorher schon in Hausprojekten gelebt, die ihr verlassen habt. Könnt ihr Punkte benennen, die entscheidend dafür sind, dass euer jetziges Zusammenleben so gut funktioniert, während andere linke Lebenszusammenhänge teilweise so jämmerlich krachen gehen? Was ist das Geheimnis, das ihr mit anderen Kommunegruppen, Hausprojekten etc. teilen wollt (auch, aber nicht nur im Hinblick auf Kinder)?
Carla: Ich glaube, dass ein großer Anteil unseres glücklichen Miteinanders darauf fußt, dass wir alle Erfahrung mit Radikaler Therapie haben.[3] Radikale Therapie ist kein gutes Gruppen-Tool, aber ein gutes Werkzeug, um als Individuum gruppenfähig zu werden. Wir fünf haben gelernt, unsere Fantasien übereinander und unseren Ärger miteinander auszudrücken, möglichst zügig anzusprechen und die Verantwortung für unsere eigenen Gefühle zu übernehmen.
Darüber hinaus haben wir vor dem gemeinsamen Umzug sehr viel Community Building gemacht, z.T. wöchentlich. Dadurch habe ich die anderen mit all ihren Schattenseiten gut kennengelernt. So habe ich das Gefühl, dass mich Verhaltensweisen, die mir jetzt aufstoßen oder mich irritieren, nicht mehr überraschen und ich sie meistens ganz gut einordnen kann. Außerdem hat uns die Haussuche und dann der erfolgreiche Kauf zusammengeschweißt. Letztendlich vereint uns das glückliche Zusammenleben hier in unserem Zuhause. Immer wieder denke ich: »Wow, wir leben im Paradies!«
Simon: Carla, ich stoße mich an Formulierungen wie »mit all ihren Schattenseiten gut kennengelernt«. Ich denke, dass ich nicht all eure Schattenseiten und ganzen Dämonen gesehen habe; die fiesen, tiefen, dunklen bestimmt nur zum Viertel. Ich kenne ja meine eigenen nur ein bisschen. Aber ich bin ganz bei dir: RT ist für die Eigen-Psycho-Recherche und -Regulation supergut; CB eher zum gemeinsamen Forschen. Ich glaube auch, dass die Nutzung dieser Methoden einen guten Teil unseres Fundaments bilden. RT, CB, Rede-Stab-Runden, das sind konkrete Methoden, die mir und uns dabei helfen, mutig zu sein und Gefühle auszuhalten.
Letztlich ist es nicht so wichtig, was es konkret ist, glaube ich. Wichtiger ist die Einsicht bei einem größeren Teil der Gruppe, dass es notwendig ist, solche (Beziehungs-)Räume zu schaffen und sie zu nutzen. Die Gruppenteilnehmer*innen müssen Lust und ein Mindestmaß an Ressourcen finden für die Arbeit an sich selbst und miteinander. Wir bleiben zusammen, auch wenn es brenzlig wird. In anderen Kontexten erfahre ich immer wieder eine Angst vor emotionalen Ausbrüchen oder Konflikten. Und dennoch: Wie schön, frei, friedlich sind die Momente nach den hohen Wellen solcher Auseinandersetzungen! Ich arbeite an dem Zumuten, also mich anderen zuzumuten, das ist mein Wachstumsbereich.
Ich habe die schmerzhafte Erfahrung gemacht, dass viel Arbeit und eine linke Einstellung keine Garantinnen für eine angenehme und funktionierende Gruppe sind. Wie viel Energie könnte gespart werden, wenn in jedem Plenum bei emotionalen Auseinandersetzungen rechtzeitig aus der Sachebene in die emotionale Ebene geswitcht würde. Dann dort Klärung herstellen und dann wieder zurück auf die Sachebene. Ich erinnere mich an so viele quälende Stunden Plenum, wo zeitgleich auf beiden Ebenen diskutiert, gelitten und gestritten wurde. Aua.
Almut: Ich will’s noch genauer wissen. Es fällt (meiner Erfahrung nach) vielen linken Menschen schwer – obwohl sie ja durch Plenum und politische Sozialisation oft top geschult sind – sich so miteinander zu streiten, sich so zu kritisieren, sich so zu zeigen, dass das produktiv ist, dass man wirklich gemeinsam daran wächst. In unseren Workshops zum Thema zeigen sich häufig Unsicherheit und Unausgesprochenes, Aufgestautes. Hier ein einfaches Beispiel: Eine junge Mutter fragte mal in die Runde: »Kann ich verlangen, dass mein Mitbewohner mal aufs Baby aufpasst, wenn ich duschen gehe?« Diese Frage konnte sie ihrem Mitbewohner anscheinend bis dahin nicht selbst stellen. Könnt ihr euch noch erinnern, wie ihr das gelernt habt, z.B. zu sagen (und sich zuzugestehen!): »Ich will das oder das von dir«? Oder: »Ich habe eine Kritik daran, wie du mit deinem Kind umgehst.« Oder: »Ich wünsche mir mehr Nähe von dir.«
Carla: Neben RT haben wir auch alle Erfahrung in der Gewaltfreien Kommunikation[4], das hilft in meiner Wahrnehmung auch sehr, vor allem dabei, zwischen Bedürfnissen und den Strategien zu unterscheiden, um diese Bedürfnisse zu befriedigen: Also z.B. habe ich das Bedürfnis nach Erholung und Ruhe, meine Strategie ist wegzufahren. Aber vielleicht können wir uns das gerade nicht leisten. Dann schauen wir gemeinsam, mit welcher anderen Strategie ich mein Bedürfnis erfüllen kann – z.B. in ein anderes Zimmer ziehen.
Und ich muss dir widersprechen, ich finde nicht, dass Menschen auf Plena oder durch politische Sozialisation dafür geschult werden, konstruktiv miteinander zu streiten, zu diskutieren und sich gegenseitig anzunehmen. Mir ist es schon häufiger im linksradikalen Umfeld passiert, dass ich mit den Instrumenten aus RT oder GfK als Hippie oder Esoterikerin oder Emo-Tante abgestempelt und dann nicht ernst genommen wurde. Es gilt immer noch als viel zu uncool, über seine Gefühle, Bedürfnisse, Wünsche, Ängste und Sorgen zu sprechen – wenn es ›draußen‹ die Welt zu retten oder die Revolution zu planen gilt. Ich habe jedenfalls erst in der Auseinandersetzung mit mir selbst gelernt, was es heißt, für mich einzustehen, mich zuzumuten und zu sagen, was mir wichtig ist.
Ivo: Zu lernen, produktiv zu kritisieren, mich mitzuteilen, ernsthaft Bedürfnisse auszuhandeln – das ist ja eigentlich ein Umstülpen meiner Erziehung! Ich bin damit aufgewachsen, nicht anecken zu wollen. Dabei ging es oft darum, die Bedürfnisse der anderen (Mama, Papa & Co.) unausgesprochen zu erfassen und danach zu handeln. Wenn es eng wird, fällt es mir noch immer schwer, mich auf mich zu konzentrieren. Mit dem Ergebnis, dass ich dann meist so richtig die Schnauze voll habe, ohne so richtig zu wissen, was eigentlich bei mir los ist.
Ich glaube, dass meine Zeit in linksemanzipatorischen Zusammenhängen wie Politgruppen oder Hausprojekten relativ wenig zur Klärung dieser Gemengelage beigetragen hat. Hier und da gab es realistische Rückmeldungen auf meine mangelnde Kommunikation, das Verhältnis mit einzelnen Mitbewohnis hat sich verschlechtert, ich habe hin und wieder versucht, mein Verhalten zu ändern. Aber im Kern sind wir meist auseinandergegangen und haben die Distanz gesucht, wenn es heikel wurde. Und wir haben die wirklich schwierigen Dinge eigentlich immer versucht, zu zweit und nie in der Gruppe zu lösen.
Als wir uns damals kennenlernten, fingen wir an, uns mit Gruppendynamiken zu beschäftigen. Aus einer teils wilden Suche nach Methoden, Formaten und Mentor*innen sind uns vor allem RT und CB bis heute geblieben. Erst letztes Wochenende haben wir uns als Kommune für drei Tage CB getroffen. Ich betrachte das als eine Art Reinigungsritual, das auch im Alltag den Mut fördert, mich zuzumuten mit dem, was mich stört. Und ich lerne, dass die anderen doch nicht gehen.
Magnus: Nach mehrjährigen Erfahrungen in einem Potsdamer Hausprojekt konnte ich genauer bestimmen, was es von mir brauchte, um langfristig in Gemeinschaft zu leben. Aber ich brauchte noch über ein Jahrzehnt Zeit, um herauszufinden, ob ich diese Fähigkeiten in mir entdecken und entwickeln konnte. Formate wie CB oder RT halfen mir, mich selbst mehr anzunehmen, zu lernen, dass ich okay bin, so wie ich bin, zu lernen, mich anderen zuzumuten, auch mit meinen von mir ungeliebten Seiten, und mich den Reaktionen und Antworten auf mich und mein Verhalten mehr zu stellen. Wir leben hier in großer emotionaler Nähe, mit großem Respekt und Liebe für den anderen, basierend darauf, dass wir auch bereit sind, uns tief in die Augen zu blicken und blicken zu lassen. Wir arbeiten daran, verletzlich zu bleiben, auch wenn wir uns verletzt fühlen und Wut und Ärger sich hineinmischen.
Über die emotionale Verbundenheit hinaus ist für mich wichtig, dass ich hier auch politisch ein Nahumfeld gefunden habe, wo ich mich verwurzelt fühle, ich mich nicht erklären muss, aber auch gestritten werden kann. Das ist sicherlich etwas, was ich nach dem Verlassen meiner Herkunftsfamilie ebenso gesucht habe wie Nähe und Verbundenheit – Zugehörigkeit.
Almut: Danke für eure Offenheit!
Ivo ist 31 Jahre alt. Simon (35) und Jelena (34) hat er damals im gemeinsamen Hausprojekt kennengelernt. Von dort sind sie gemeinsam aus- und losgezogen u.a. mit Magnus (37) als langjährigem Freund Simons. Vor ca. fünf Jahren haben die vier dann Carla (33) auf dem Los geht’s!, einem Kommune-Festival, kennengelernt. Seit Juli 2018 leben die fünf mit ihren sechs (Patchwork-)Kindern zusammen in einer WG auf einem Hof in Brandenburg.
[1] Vorbereitete Umgebung ist frei nach Maria Montessori der altersangemessene und liebevoll gestaltete, räumlich definierte Platz, an dem Materialien, Medien und Handwerkszeug für die Kids geordnet zur Verfügung gestellt werden, sodass sie in ein selbstorganisiertes und eigenverantwortliches Lernen gelangen können.
[2] Community Building ist eine Methode der Gemeinschaftsbildung und aufrichtiger Kommunikation. Infos gibt es hier: http://www.netzwerk-communitybuilding.eu/
[3] Die Radikale Therapie ist ein selbstorganisiertes Therapieverfahren. Carla empfiehlt diese Seite: http://www.fort-frauen.de/ Weitere Infos gibt es hier: http://www.mrt-maennergruppen.de/ und hier: https://radikale-therapie.de/de/was-ist-radikale-therapie.html
[4] Die GfK ist ein Handlungskonzept, das Menschen ermöglichen soll, so miteinander umzugehen, dass der Kommunikationsfluss zu mehr Vertrauen und Freude am Leben führt. GFK soll in diesem Sinne sowohl bei der Kommunikation im Alltag als auch bei der friedlichen Konfliktlösung hilfreich sein.