„Wir sind als Gemeinschaft chaotisch-anarchisch“

Zwischenbericht zu einer – politischen – Alltagspraxis mit Kind

von Fabian Schwitter

Erfahrung: etwas zur Vorgeschichte

Für mich als Mann bestand die grundlegendste politische Entscheidung darin, völlig unabhängig von der Wohnform die Betreuungsarbeit mit der Mutter meines Kindes paritätisch zu teilen. Seit Yuri, unser Sohn, drei Monate alt ist,1 teilen wir – seine Mutter und ich – uns die Betreuungsarbeit zu gleichen Teilen. Yuri ist mittlerweile vier Jahre alt. Seit er zweieinhalb Jahre alt ist, leben seine Mutter und ich getrennt. Zur politisch motivierten Entscheidung, die Betreuungsarbeit zu teilen, kam eine ebenso wichtige individualpsychologische Komponente: meine Panik davor, als Vater der ausgeschlossene Dritte in der Mutter-Kind-Beziehung zu werden. Dem wollte ich von Anfang an entgegenwirken. Mir ist die – alltägliche – Beziehung zu Yuri wichtig.

Mein Wunsch nach einer kollektiven Lebensform ist nicht hauptsächlich aus einer politischen Haltung heraus geboren, sondern aus dem Unbehagen im erlebten Kleinfamiliendasein. Politische Überlegungen mögen einer der Gründe für mein Unbehagen gewesen sein. Ausschlaggebend waren sie nicht. Nach der sechsköpfigen alternativen Studierenden-WG, in der wir ein enges Zusammensein jenseits der zugelassenen Belegungsobergrenze unseres Hausteils gepflegt hatten, hatte ich gegen Ende des Studiums zunächst genug vom gemeinsamen Wohnen und zog mit meiner damaligen Freundin und späteren Mutter meines Kindes zusammen. Neben der Neugierde auf das Kleinfamiliendasein, das mir meine Eltern vorgelebt hatten, mag ein Grund für den Überdruss am gemeinschaftlichen Wohnen die Zukunftslosigkeit einer Wohnform gewesen sein, deren Status als Durchgangsstation im Voraus festgestanden hatte, weil das Haus für Studierende subventioniert gewesen war. Nachdem wir – Yuri, seine Mutter und ich – in einen Neubau gezogen waren, drängte mich– vielmehr noch als politische Überlegung – die erlebte Beklemmung gepaart mit der Aussicht, die nächsten 30 Jahre so zu leben, wieder aus der Kleinfamilienwohnung hinaus. Die Kontaktlosigkeit dieser Wohnform ist für einen Menschen wie mich, der zur Gewöhnung an andere Menschen intensiven und kontinuierlichen Kontakt – auch in vorgegebenem Rahmen wie gemeinsamen Projekten – braucht, kaum zu überwinden. Ich brauche die alltägliche Zusammenarbeit, um stabile, für mich bereichernde und erfüllende Beziehungen aufbauen zu können. So stellte sich bei mir in der Kleinfamilienwohnung allmählich ein klaustrophobisches Gefühl der Isolation ein. Bezeichnend ist, dass mein Wunsch, in erweiterten – und langfristig orientierten – Wohnkontexten zu leben, gerade mit der Geburt meines Sohnes Yuri wieder drängender wurde.

Yuris Anwesenheit erschwerte mir im Kleinfamiliendasein die Hinwendung zu außerfamiliären Aktivitäten. Als Paar in einem Zweipersonenhaushalt ohne Kind war ich mit meiner Partnerin weniger an die Wohnung gebunden gewesen.

Ich fühle mich schnell verantwortlich. Mich erreichte aus einer WhatsApp-Gruppe die Nachricht, dass das Flyern und Plakatieren noch zu erledigen sei. Ich sagte zu, hetzte um die Häuser, passte gleichzeitig auf meinen 18-monatigen Sohn auf – ich fühlte mich ausgenutzt, überfordert und in meinem Pflichtgefühl weder unterstützt noch geschätzt.

Allerlei für mich wichtigen und erfüllenden Aktivitäten hatte ich jederzeit außerhalb des Hauses nachgehen können. Ich hatte mich damals in kollektivistischen Literaturprojekten und sozialaktivistischen Institutionen (v.a. im Asylbereich) engagiert. Die Anwesenheit unseres Sohnes erschwerte dieses Engagement und stellte mich ständig vor einen Prioritätenkonflikt. Wem will ich gerecht werden? Gesellschaftlichen Verpflichtungen im Großen oder im Kleinen gegenüber diesem einen Menschen, der mein Kind ist? Gleichzeitig blieb meine Arbeit liegen. Ich konnte meinen Lebensstil nach Yuris Geburt nur aufrechterhalten, weil mich bei der Arbeit niemand kontrollierte und ich einfach weniger als die vorgesehenen Stunden arbeitete. Obwohl diese Situation rational durchaus zu rechtfertigen wäre, trieb sie mich emotional immer wieder zur Verzweiflung, weil ich das Gefühl nicht loswurde, weder der Arbeit, noch Yuri, noch gesellschaftlich-moralischen Geboten, noch mir selbst gerecht werden zu können. Statt dass mein Leben sich aus unterschiedlichen Aktivitäten zu einem Ganzen zusammensetzte, fragmentierte es sich doppelt – mein Leben zerfiel, sodass die Teile nicht nur keinen Zusammenhalt mehr aufwiesen, sondern sie selbst waren schon durchsetzt von Unzulänglichkeit, weil ich für keinen der Teile ausreichend Zeit hatte.

Leben: etwas zur Gegenwart

Das Hausprojekt, in dem ich mit Yuri und etwa zwanzig weiteren Menschen lebe, ist sehr heterogen – es leben auch einige Menschen in unserem Haus, die sich nicht aus politischen Gründen für eine kollektive Wohnform entschieden haben. Unsere Altersspanne reicht von wenig über null bis etwas unter sechzig Jahren. Im Haus wohnen ungelernte ebenso wie akademische promovierte Menschen. Etwa ein Drittel der Menschen kommt nicht aus Deutschland. Über ein monatliches Community Meeting versuchen wir, eine basale Koordination zu gewährleisten, gelangen jedoch kaum zu einer gemeinschaftlichen Entscheidungsfindung – weder im Konsens noch mit dem Mehrheitsprinzip. Wir haben uns nie genug Gedanken über unsere Entscheidungsfindungsprozesse gemacht. So haben wir auch noch keinen Weg gefunden, gemeinschaftlich über Neuzuzüge zu entscheiden. Das Community Meeting ist dafür nicht verbindlich genug. Meist sorgen kleine Gruppen zusammen mit der Hausbesitzerin, die auch im Haus wohnt, für die Neubelegung der freien Zimmer, die allerdings auch länger leer stehen können. Wir verfügen über eine Haushaltskasse, in welche alle monatlich den gleichen Betrag einzahlen. Wöchentlich gibt es einen Großeinkauf. Zudem teilen wir grundlegende Reproduktionsarbeiten, wie Putzen, untereinander auf. Eine gemeinschaftliche Alltagsgestaltung findet im Ganzen der Gemeinschaft nicht statt. Weder hat sie sich von alleine ergeben, noch haben beispielsweise mehrmalige Versuche, das Kochen gemeinschaftlich zu organisieren, zum gemeinsamen Essen geführt. Wir sind als Gemeinschaft, auch wenn wir das nicht bewusst wahrnehmen und begreifen, chaotisch-anarchisch. Und für weiterreichende Solidarität – wenigstens im Sinn der Nutzung von Synergieeffekten bei der Bewältigung der Reproduktionsarbeit – fehlen uns eine bestärkende Kommunikationspraxis sowie als Folge davon das Wissen übereinander. Wir kennen uns oft nicht gut, unternehmen wenig, das zu ändern, tun uns in Konfliktsituationen schwer und neigen dazu, Konflikten auszuweichen oder ihnen durch Rückzug aus dem öffentlichen Raum zu entgehen. Unser gemeinsamer Alltag ist geprägt von großen Unsicherheiten im Umgang miteinander.

Synergien genauso wie ein Gefühl der Aufgehobenheit und rudimentären Sicherheit im sozialen Umgang haben sich für mich in einer kleineren Bezugsgruppe ergeben. Besonders zu zwei erwachsenen Menschen pflege ich engen Kontakt: O. und L.2 Wir kochen immer wieder gemeinsam oder treffen uns zu Gesprächen. Zum erweiterten Kreis dieser Gruppe gehören noch einige andere Menschen: vor allem J, das O.s jüngeres Geschwister ist, und R., der ein siebenjähriges Kind hat. Da J., das einer körperlich anstrengenden Arbeit nachgeht und auch mit psychischen Belastungen umzugehen hat, immer wieder viel Ruhe und Rückzug braucht, begegne ich J. nicht regelmäßig zu intensiveren Gesprächen. Es bringt aber viel Willen zur gemeinschaftlichen Alltagsgestaltung mit und engagiert sich im Rahmen der Kräfte, über die es verfügt, selbständig und zuverlässig. Mit R. spreche ich zwar regelmäßig, aber nicht häufig, da er wegen des Nestmodells (deshalb lebt auch sein siebenjähriges Kind nicht bei uns) nur jede zweite Woche im Haus lebt. R. hat bereits Erfahrung im gemeinschaftlichen Wohnen, kämpft aber mit der sozialen Integration, die in unserem Haus aufgrund seiner Heterogenität sowohl was die Herkunft der Mitwohnenden als auch was deren Wünsche für das Zusammenleben betrifft, schwierig ist.

Da Yuri gerne einen Film schauen wollte, hatten wir uns geeinigt, dass das vielleicht eine schöne Aktivität zu dritt sein könnte: Yuri, L. und ich. Zusammensein ohne viel Aufhebens und Interaktion. Am Ende des Films hätte ich mir von Yuri gewünscht, dass er L. lieb verabschiedet. Yuri reagiert aber ablehnend auf L. Ich versuchte ihn dadurch zu gewinnen, dass L. ja eigens gekommen sei, um mit ihm einen Film zu schauen. Yuri antwortete trocken: L. ist deinetwegen hier.

Mit L. teile ich sehr viel. Allmählich ist sie – seit ich sie in Leipzig in unserem Haus kennengelernt habe – zu meinem wichtigsten Bezugsmenschen und zu meiner wichtigsten Sexualpartnerin geworden.

Zu O., der kinderlieb und mit seinem Bruder J. zusammen in einer neunköpfigen Großfamilie aufgewachsen ist, hat Yuri eine freundschaftliche und manchmal geradezu verehrende Beziehung. Yuri ist fasziniert von O.s musikalischen Aktivitäten (v.a. beatboxen) und darf Yuri auch immer wieder mitmusizieren oder bei der Bedienung von technischen Geräten wie Mischpulten helfen. L. dagegen nimmt Yuri, obwohl auch sie kinderlieb ist, manchmal als Konkurrenz um Aufmerksamkeit wahr. L. gegenüber hat Yuri stark schwankende Gefühle von großer Zuneigung bis zu offener Ablehnung. Dennoch ist auch L. für Yuris Drang nach selbständigen und lehrreichen Aktivitäten eine wichtige Ansprechperson, kann Yuri doch immer wieder mit L. Gartenarbeit machen, kochen oder spielen. Trotz der beschriebenen Herausforderungen unternehmen wir immer wieder gemeinsam etwas. Wir gehen baden oder spielen auf dem stillgelegten Bahndamm hinter dem Haus, der für Yuri und mich zu einem abenteuerlichen urbanen Freiraum geworden ist, wo wir experimentieren, herumtoben und bauen können. So ist Yuri in einen erweiterten Menschenkontext eingebettet. Allerdings bewegt er sich viel unter erwachsenen Menschen, denn die Menschen in unserer Bezugsgruppe sind jünger als ich und haben mit Ausnahme von R., dessen siebenjähriger Sohn aber nicht bei uns im Haus wohnt, keine Kinder.

Wenn in der Küche viel los ist und Yuri isst, nehmen viele Erwachsene die (vielleicht seltene) Gelegenheit wahr, Kontakt zu ihm aufzunehmen und mit ihm zu interagieren. – Von links streicht jemand Yuri über den Kopf. Von rechts fragt ihn gleichzeitig jemand, was er heute gemacht hat oder machen wird. – Diese lieb gemeinten Gesten haben jedoch den Effekt, dass Yuri von dem abgelenkt wird, was er gerade tut, da ein vierjähriges Kind nicht über dieselben Fähigkeiten zum Multitasking verfügt wie ein erwachsener Mensch, der gleichzeitig essen und reden kann. Und da Yuri oft ein langsamer Esser ist (z.B.: 45 Minuten für eine Scheibe Brot beim Frühstück), fordert das manchmal meine Geduld arg heraus oder wir geraten unter Zeitdruck, wenn wir beispielsweise die Bahn zum Kindergarten erreichen wollen.

Eine Zusammenarbeit mit anderen Erwachsenen mit Kindern in unserem Haus – neben Yuri leben noch drei weitere Einzelkinder zwischen zwei und vier Jahren im Haus – existiert kaum. Da Absprachen über die gemeinsame Gestaltung des Alltagslebens der Erwachsenen im Haus schon schwer sind, liegt eine Diskussion über Erziehungsvorstellungen und ein Abgleich des Umgangs mit Kindern außerhalb des Machbaren.

Mir sind gemeinsame Mahlzeiten wichtig. Deshalb möchte ich nicht, dass andere Erwachsene Yuri den Appetit nehmen, indem sie ihm vor dem Essen etwas zustecken. Es hat mich einigen Aufwand gekostet, beispielsweise den Konsum von Süßwaren unmittelbar vor Mahlzeiten zu unterbinden. Ich bin aber erleichtert, dass mir dies gelungen ist. Yuri akzeptiert, dass es vor dem Essen nichts gibt und hat sich diese Regel auch angeeignet, und die anderen Erwachsenen halten sich zurück. Bedauerlich finde ich in diesem Zusammenhang, dass viele Erwachsene Kontakt zu Kindern über milde Formen der Bestechung aufnehmen, indem sie Kindern hier einmal ein Eis und dort einmal ein Stück Kuchen zustecken, um sich deren Zuneigung zu sichern, statt sich mit den Kindern abzugeben und Zeit mit ihnen zu verbringen.

Die Sprachbarriere verhindert für mich Absprachen mit dem einen Vater, dessen Kind aber meist nicht im Haus wohnt. Einem weiteren Kind begegnen wir im Alltag selten, weil es bei seiner Mutter, die die Hausbesitzerin ist, in einer eigenen Wohnung lebt und sich selten in den Gemeinschaftsräumen aufhält. Das dritte Kind ist jünger und noch recht neu im Haus. Die erwachsenen Menschen im Haus, die gleichzeitig Eltern sind und deren Kinder zumindest teilweise im Haus leben, sind sich nach wie vor recht fremd und arbeiten trotz der Gemeinsamkeit, Eltern zu sein, kaum zusammen.

Ich versuche, mit der Haltung zu leben, dass alle erwachsenen Menschen selbst für sich und ihre Grenzen verantwortlich sind. Deshalb will ich nach Möglichkeit nicht in die Interaktionen zwischen meinem Sohn und erwachsenen Menschen im Haus eingreifen. Yuri verfügt über eine laute Stimme und ist gerade Erwachsenen gegenüber sehr kommunikativ. Wenn ihn etwas interessiert, geht er unbefangen auf erwachsene Menschen zu, um sie zu befragen.

Eine Mitbewohnerin meinte, als ich sie wegen Yuris Lautstärke und seinem offensiven Verhalten fragte, sie würde einfach den Raum verlassen, wenn es ihr zu viel würde. Sie redet allerdings nicht direkt mit mir darüber. Dennoch darf Yuri hin und wieder in ihrem Zimmer Hörspiel hören.

Das tut er bei Obdachlosen auf der Straße genauso wie bei Menschen im Haus. Umgekehrt verlassen Menschen im Haus einfach den Raum, um sich Auseinandersetzungen mit Yuri oder in der Folge mit mir zu entziehen. Das führt immer wieder zu Spannungen. Ich halte das einerseits kaum aus, stelle hohe Ansprüche an meine Selbstbeherrschung: Wenn mir unangenehm ist, was Yuri in Bezug auf andere Erwachsene tut, frage ich mich zunächst, warum mir das Verhalten unangenehm ist und versuche zu vermeiden, einzig aufgrund meines Unwohlseins Yuris Verhalten zu unterbinden. Solche erzieherischen Überlegungen sind sehr voraussetzungsreich und ebenso anspruchsvoll für mich wie für andere Menschen, sodass meine Entscheidungen viel Erklärungsarbeit verlangen würden. Das stellt mich gerade in unserem Haus, wo die Beziehungen zwischen den meisten Menschen nicht besonders eng sind, vor große Herausforderungen, weil es mir schwerfällt, immer wieder auf mir recht fremde Menschen zuzugehen. Vielfach habe ich nicht die Kraft, mich den anderen Menschen im Haus einfühlsam zu erklären, und entziehe mich den Situationen oder lebe einfach mit den beklemmenden Spannungen.

Durch Yuris Geburt habe ich vermehrt begonnen, andere Menschen in meine Überlegungen miteinzubeziehen, da seine Gegenwart mir aufgezeigt hat, dass ich für mehr als einen Menschen denken muss und auch kann. Ich habe verstärkt begonnen, in erweiterten sozialen Kontexten zu denken, sodass ich beispielsweise immer für mehr Menschen als nur Yuri und mich koche. Da ich ohnehin koche, weil ich für Yuri regelmäßige und nahrhafte Mahlzeiten gewährleisten will, profitieren die Menschen um uns herum von der Befriedigung dieses Bedürfnisses.

Bei einem Fest einer Mitbewohnerin ließ ich Yuri, wie ich das, weil es selten vorkommt, für richtig halte, einfach in unserer Hausbar unter den rauchenden und trinkenden Gästen herumspringen. Und solange er nicht müde war, wollte ich ihn, in der Hoffnung, am nächsten Tag länger schlafen zu können, auch nicht ins Bett bringen. Für mich als Vater war es wichtig, wie alle anderen Menschen im Haus Teil des Fests sein zu können und nicht schon um zehn oder elf ins Bett zu gehen. Schließlich kann ich oft nicht dabei sein, wenn Menschen aus dem Haus auswärts feiern. So erhalten Feste im Haus für mich eine große Bedeutung. Meine Mitbewohnerin fühlte sich in Yuris Anwesenheit jedoch gehemmt, nach Lust und Laune zu rauchen und Alkohol zu trinken. Ihre unbedingte Aufforderung, ich solle Yuri ins Bett bringen, führte zu einem eskalierenden Streit. Ich hatte nicht das Gefühl, mein Befinden als Vater äußern zu können, und wehrte mich in meiner Verzweiflung schreiend und aufbegehrend gegen die Forderung der Mitbewohnerin. Letztlich, als ich mein eigenes Verhalten bemerkte, beendete ich den Streit, indem ich mich zurückzog und Yuri ins Bett brachte. Seither redet die Mitbewohnerin nicht mehr mit mir.

Eine Erleichterung und Bestärkung ist es allerdings, dabei Unterstützung von meinen wichtigsten Bezugsmenschen im Haus, L. und O. – aber auch von J. und R. –, zu erfahren. Diese lassen sich vielfach auf Yuris Lebensrhythmus ein, auch wenn dieser nicht unbedingt ihrem eigenen entspricht, sodass sie beispielsweise früher als gewöhnlich essen. Wenn ich sie frage, ob sie mir beim Kochen helfen oder einfach gemeinsam essen möchten, reagieren sie meist zustimmend. So fühle ich mich sozial aufgehoben. Umgekehrt habe ich begonnen, Yuris Bettzeit dem Hausrhythmus anzupassen. Wenn jemand aufwändiger und für viele kocht, können wir oft erst gegen 20 Uhr essen. Zu dieser Zeit liegt Yuri üblicherweise schon im Bett und schläft langsam ein. Oft habe ich mich deswegen unter Druck gesetzt, entweder die Menschen dazu zu bringen, vorher zu kochen, oder Yuri vor dem Essen schon ins Bett zu bringen, dass wenigstens ich am gemeinsamen Essen teilnehmen kann. Dieser Druck hat so sehr auf meine Stimmung geschlagen, dass ich Yuri in solchen Fällen nun einfach später ins Bett bringe, obwohl er recht viel Schlaf braucht. Uns allen geht es aber besser damit. Dennoch habe ich aufgrund meiner Vaterschaft immer wieder ein Gefühl der Ausgeschlossenheit, weil ich meinen Rhythmus nicht so frei bestimmen kann wie die meisten Menschen im Haus.

Mein Lebensrhythmus schwankt in Abhängigkeit von Yuris Gegenwart stark. Das ist auch eine Herausforderung für meine Beziehung zu L. Wenn Yuri nicht bei mir ist, widme ich sehr viel meiner Aufmerksamkeit L. und nehme vermehrt ihren Rhythmus an, da ich gänzlich selbstbestimmt arbeite und auch eher so wie L. eine Nachteule bin. Wenn Yuri da ist, ziehe ich viel Aufmerksamkeit von L. ab und bin auch häufiger einfach müde, weil ich früh aufstehe, um Yuri durch die ganze Stadt in den Kindergarten zu fahren.3 Emotional sind diese Wechsel manchmal schwer auszuhalten. Gleichzeitig fehlt vielfach die Unterstützung vom Umfeld im Haus. Während ich zu Beginn immer wieder Menschen gefragt habe, ob sie das Babyphon hüten oder Yuri abends ins Bett bringen, habe ich das beinahe gänzlich aufgegeben, da ich mich zu stark in der unangenehmen Rolle des Bittstellers fühle. L., die mir gerne hilft, möchte ich dagegen nicht mit einer unangemessenen Co-Eltern-Rolle zu stark belasten. Diese Sorge meinerseits kann umgekehrt aber auch wieder ein Grund sein, warum L. der Zugang zu Yuri erschwert ist. Generell war es von Anfang an herausfordernd auszuloten, was von unserer Beziehung wir Yuri zu welchem Zeitpunkt offen zeigen und was nicht. Einige Zeit hielten wir unsere körperliche Nähe vor Yuri verborgen. Zu Beginn unserer Beziehung wollten wir auch vorsichtig gegenüber Yuris Mutter sein. Inzwischen leben wir aber gänzlich offen voreinander. Yuri, L. und ich schlafen hin und wieder im selben Bett. Und mit Yuris Mutter planen wir Urlaub zu viert.

Yuri kam 2015 in Zürich zur Welt. Damals lebten wir, seine Mutter und ich, zu zweit in einer Dreiraumwohnung. Im Herbst 2017 zogen wir nach Leipzig und leben seither in erweiterten Wohnkontexten. Yuri verbringt jeweils die Hälfte der Zeit im einen und die andere Hälfte der Zeit im anderen Wohnprojekt. Seit ich in Leipzig bin, habe ich mich weitgehend aus dem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen und konzentriere mich vornehmlich auf meine Beziehungen zu den mir lieben Menschen im Haus sowie zu Yuri und seiner Mutter. Ich habe kaum Freunde außerhalb des Hauses und engagiere mich – mit Ausnahme meiner Bemühungen um ein gedeihliches Zusammenleben im Haus – auch nicht längerfristig in Projekten. Diese selbstgewählte Situation ist das Resultat eines Lernprozesses der Selbstbeschränkung. Eine Selbstbeschränkung, die ich erst durch Yuris Anwesenheit in meinem Leben als notwendig wahrzunehmen begonnen habe und mittlerweile akzeptieren kann. Dazu hat der Umzug nach Leipzig viel beigetragen, weil ich die Größe meines sozialen Umfelds und den Umfang meiner Verpflichtungen neu bestimmen konnte. Aufgrund meines kleinen Kontaktnetzes bin ich auch nicht permanent mit Beteiligungsbitten konfrontiert, die abzulehnen ich mich schwertue. Mein politisches Engagement begreife ich inzwischen nicht mehr aktivistisch, sondern alltäglich.

Hoffnung: etwas zur Nachgeschichte

Ich fühle mich längst nicht am Ziel: Ich fühle mich in der Stadt unwohl. Nicht wegen Yuri (weil ich beispielsweise glaubte, Kinder müssten im Grünen aufwachsen), sondern der Unüberschaubarkeit der Verhältnisse wegen. Die Stadt hat viel Potenzial, untergräbt aber nach meinem Erleben gerade dadurch auch immer wieder eine Selbstorganisation, wie ich sie mir wünsche. Die Konzentration auf das Hausprojekt fehlt bei vielen aufgrund der vielfältigen anderen Betätigungsmöglichkeiten. Die Beziehungen können sich dadurch kaum entwickeln. Nach meiner Erfahrung ist ein kollektives Wohnen mit starker gemeinschaftlicher Selbstorganisation erst dann möglich, wenn die Aktivitäten innerhalb des Hauses gegenüber den Aktivitäten außerhalb des Hauses tendenziell Priorität haben. Ausreichend gemeinsame Zeit beispielsweise scheint mir unabdingbar für ein gelingendes Zusammenleben. Ich trage mich seit einiger Zeit mit dem Gedanken, zusammen mit L. für uns drei – L., Yuri und mich – einen anderen Ort zu suchen. Der Einbezug von Yuri fällt mir da noch schwer, da ich zwar nach den vielen Umwälzungen in den letzten Monaten und Jahren seinen Wunsch nach Stabilität begreifen kann, gleichzeitig aber seine Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken, noch sehr gering ist. Das Haus, in dem wir momentan leben, war immer nur als Zwischenstation gedacht und hat seinen Status aufgrund der beschriebenen Umstände, die eine weitere Integration und eine grössere Solidarität unter den Menschen verhindern, auch nicht verändert. Ich betrachte das Haus als temporäres Übungsfeld.

Die familiäre Integration von Menschen beginnt nach meiner Erfahrung lange vor und unabhängig von der Wohnform. Bereits in Zürich waren die Großeltern sowie eine weitere Familie, mit der wir einen regelmäßigen Betreuungsaustausch (eine Art private Kleinkrippe) pflegten,4 tragend bei der Bewältigung der Betreuungsarbeit. Wir alle lebten nicht im selben Haus – und teilweise nicht einmal in derselben Stadt. In Leipzig habe ich L. zwar über unser Haus kennengelernt – unabhängig davon ist es mir aber lieb, sie familiär integrieren zu können. Wir arbeiten aktiv daran, ein inniges Verhältnis nicht nur zu Yuri, sondern auch zu Yuris Mutter aufzubauen. Umgekehrt betrachte ich die gemeinsame Elternschaft von mir und Yuris Mutter nach der Trennung und dem Wegfall der Liebesbeziehung primär als elterliche Solidargemeinschaft und Freundschaft. Wir haben die Trennung trotz schmerzhafter Phase gut überstanden und pflegen nach wie vor ein Verhältnis tiefer Verbundenheit. Das solidarische Netzwerk verschiedener Menschen in Bezug auf Yuri ist nicht auf den Hauskontext beschränkt, auch weil die Verantwortung für Yuri innerhalb unseres Hauses nach wie vor ausschließlich bei mir als Vater liegt. Das gegenwärtige Hausprojekt als Ganzes spielt diesbezüglich eher eine Nebenrolle. Allerdings decken sich meine sozialen Beziehungen in Leipzig und das Wohnprojekt größtenteils, da ich meine sozialen Beziehungen außerhalb des Hauses weitgehend beschränke. Diese Deckung möchte ich aber noch vergrößern – am liebsten, indem die mir familiär und alltäglich wichtigen Menschen am selben Ort in einer gemeinsamen Ökonomie leben, die den Austausch über die jeweiligen Bedürfnisse besser gewährleistet als das in unserem momentanen Haus der Fall ist. Gleichzeitig merke ich aber auch, dass ich mich nach der langen Auszeit wieder beruflich engagieren möchte, was den Fokus vom Wohnen weglenkt. Ich spüre, dass die Spannung in mir in Bezug auf unterschiedliche Betätigungsfelder und die damit einhergehenden Prioritätenkonflikte nach dieser selbstgewählten Auszeit wieder größer werden. Gleichzeitig fühle ich mich aber auch besser gerüstet dafür. Ich bin hoffnungsvoll und neugierig. Ich verspüre Lust und Tatendrang.

Autor*in:

Fabian Schwitter, *1984, Philosoph, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, hält an der Hoffnung auf die Früchte der Anstrengungen seiner Generation fest (www.fabian-schwitter.com)

1 Der Mutterschaftsurlaub dauert in der Schweiz drei Monate. Eine Elternzeit gibt es nicht. Väter kriegen nach wie vor lediglich einen Tag Urlaub. Mit etwas Glück, wenn sie den freien Tag geschickt timen, schaffen sie es also zur Geburt ihres Kindes. Die fehlende Elternzeit in der Schweiz holen wir nun in Deutschland durch das Gefälle, das unsere früheren Schweizer Löhne erzeugen, nach.

2 Jeder Anfangsbuchstabe entspricht einer Person. Es gibt keine Doppelungen. Überdies korrespondieren diese Anfangsbuchstaben mit den gezeichneten Hausplänen.

3 Aufgrund der angespannten Betreuungssituation in den Leipziger Kindertagesstätten konnten wir nach unserem Umzug lediglich einen Kindergarten auf der anderen Stadtseite finden. Die Institution ist aber so gut, dass ich gerne den Weg in Kauf nehme. Und Yuris Mutter wohnt mittlerweile auch in diesem Stadtteil.

4 In Zürich ist die Betreuung von Kleinkindern nicht staatlich gewährleistet. Die Institutionen sind privatwirtschaftlich organisiert, sodass Betreuungsplätze entsprechend teuer sind. Der Preis eines Krippenplatzes in Leipzig pro Monat entspricht in Zürich zwei Tagen. Ich hätte daher dieses Konzept selbstorganisierter Kinderbetreuung gerne weiter ausgebaut. Wir konnten allerdings keine weiteren Familien finden. Der Rückgriff auf bezahlte Dienstleistungen zur Umgehung sozialer Auseinandersetzungen ist zu verlockend.

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