von Miriam
»Die Voraussetzungen einer echten Gesellschaft lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Sie kann nicht ein Aggregat von innerlich zusammenhanglosen Individuen sein, denn ein solches würde doch wieder nur durch ein ›politisches‹, ein Herrschafts- und Zwangsprinzip zusammengehalten werden können, sondern sie muss sich in kleinen Gesellschaften auf der Grundlage gemeinschaftlichen Lebens und in den Verbänden dieser Gesellschaften aufbauen, und die Beziehungen sowohl der Mitglieder jeder dieser Gesellschaften zueinander als die der Gesellschaften und Verbände miteinander müssen in einem so weitgehenden Maße als möglich von dem gesellschaftlichen Prinzip, dem des inneren Zusammenhangs, des Zusammenwirkens und der gegenseitigen Förderung, bestimmt sein.«
Martin Buber 1945
Ich hatte beschlossen, ein schönes Leben zu führen. Das hieß für mich, ich wollte Kinder haben. Auch den Kindern wünschte ich ein schönes Leben. In meiner romantischen Vorstellung sollen Kinder Platz haben, ihren Spielen zu folgen. Sie sollen verschiedene Menschen und Lebensweisen kennenlernen und gute und stabile Beziehungen zu Menschen jedes Alters knüpfen. Meine Freundin und ich wollten gemeinsam für ein Kind sorgen, es kennen und begleiten. Wir wollten nicht die einzigen Menschen sein, deren Leben mit dem des Kindes verknüpft ist. Zudem sollte Linkssein für das schöne Leben mit meinem Kind die Normalität bestimmen, nicht die Ausnahme sein. Denn Menschenfreundlichkeit ist links.
Links sein, politisch sein. Für die Entscheidung, in ein Hausprojekt zu ziehen, war mein Wunsch nach einem politischen Leben ausschlaggebend. Denn neben meinem romantischen Kinderwunsch und neben meiner romantischen Liebe zu meiner Freundin vertrete ich politische Positionen, die klare Verneinungen sind. Diese richten sich an gesellschaftliche Erwartungen, die ich falsch finde und von denen ich mich energisch abgrenzen möchte.
Ich grenzte mich vom Fatalismus der entlohnten Arbeit und der Abwertung und gegenwärtigen Verteilung von Haushalts- und Fürsorgearbeit ab. Mein Leben wollte ich nicht einer Arbeit unterwerfen, deren Bezahlung mich dafür entschädigt, dass ich die Hälfte meiner Ansichten anpassen oder beiseitelassen muss. Ich wollte gesellschaftlich wirken, nämlich politisch arbeiten können, mich aber zu diesem Zweck nicht aus der Welt der Gefühle, der Beziehungen und der lebenserhaltenden Tätigkeiten zurückziehen. Ich wollte Solidarität nicht auf mich selbst oder die gesetzlich anerkannte Familie beschränken. Solidarität zeigt sich zum Beispiel beim Bescheid-wissen- Wollen, beim Kümmern und Trösten – im Umgang mit Geld, mit Essen und Dingen, mit Ämtern, mit Zeit. Ich liebe meine Herkunftsfamilie, aber sie ist nicht alles, was ich bin. Bei der Geburt meines Kindes war sie bedingungslos am Start – jedoch waren meine Freund*innen auf einmal seltener dabei. Am engagiertesten waren diejenigen mit Kindern. Ich aber wollte mit meinem Kind Zeit verbringen, ohne als Erwachsene zu vereinsamen. Nicht nur Mutter und Tochter sein, sondern auch Freundin. Die Menschen, die meine Wege kreuzen, haben eine große Bedeutung für mich, die ich mir bewahren wollte. Ich hielt es für ein persönliches und für ein politisches Drama, wenn ich diese Beziehungen gegen eigene Kinder eintauschen würde. Denn die vielen menschlichen Querverbindungen, die dann Netzwerke bilden, sind der Stoff, aus dem Kommunismus gemacht wird.
Ich ging davon aus, dass Menschen, die ich in einem Hausprojekt treffen würde, Kindern gegenüber respektvoll sind. Mich hatten kinderfeindliche Begegnungen im öffentlichen Raum überrascht: Empörung über meine stillende Freundin, Ärger über die Laute eines Säuglings. Ich suchte nach einer Umgebung, die für Kinder nicht zuallererst Grenzen sucht, sondern Verständigung. Kinder funktionieren nicht wie Maschinen oder wie Untergebene; auch wenn einige Menschen sich das zu wünschen scheinen. Auch viele Erwachsene wollen keine Maschinen und keine Untergebenen sein. Daraus, dass viele linke Menschen am Kapitalismus Druck, Konkurrenz und Leistungsorientierung kritisieren, schloss ich, dass sie für Kinderlogik, die diesen Prinzipien so entschieden widerstrebt, ein gutes Gespür haben würden.
Motiviert also von antikapitalistischer und feministischer Kritik an den Zumutungen unserer Gesellschaft und aus romantischen Vorstellungen über linkes Zusammenleben zog ich in ein Hausprojekt. Ich wollte viel diskutieren und politische Ideen umsetzen. Putzen, reparieren und das Zusammensein mit Kindern mit mehreren Menschen teilen. Care Revolution wird das oft genannt. Ich wollte generationenübergreifend wohnen. Verbindungen eingehen. Rollenerwartungen in Bezug aufs Geschlecht nicht erfüllen und für mein Kind, mit dem ich einzog, eine schöne Umgebung schaffen.
Eintauchen für einen Gegenentwurf
Nun zog ich in ein Hausprojekt. Unser gemeinsames Leben würde zu einem realen Gegenentwurf zur hässlichen gesellschaftlichen Normalität werden. Ich stünde nicht allein gegen das System, sondern im harmonischen Vielklang mit den anderen zusammen. Meine Aufgabe wäre nicht, als Gegengewicht für eigentlich unzumutbare Erfahrungen aufzutreten, die mein Kind in einer feindlichen Außenwelt jeden Tag neu sammelt. Stattdessen würden die vielen Stimmen in unserem Haus der passende Widerspruch zu meiner eigenen sein.
Ich zog in ein Hausprojekt. Es war aufregend. Meine Mitbewohner*innen waren allesamt verschroben. Sie waren mir sofort sympathisch. Ich tauchte ein in das Haus dieser 15 Menschen, versuchte mich einzufühlen in ihren Blick auf die Welt, diskutierte los. Mein Kind war anfangs etwas verloren in den großen Räumen, es konnte die Türklinken noch nicht allein erreichen und blieb eng bei mir.
Anfangs hatte ich den Eindruck, ich würde niemals irgendjemandem erklären können, wie unser Haus funktioniert. Denn alles, was in seinem Gefüge passiert, ist unüberschaubar, die Geschichten sind lang und verworren, sie beinhalten ehemalige Mitbewohner*innen und die Bedeutung ihrer hinterlassenen Gegenstände. Das bietet reichhaltiges Material für Anekdoten, aber wenn ich erzählte, dachte ich oft, dass es mir nicht gelungen war, etwas Wesentliches aus unserem Leben und unserem Verhältnis zueinander zu beschreiben. Mittlerweile mache ich mir weniger Sorgen darüber, was ich weglasse. Das ist das Ergebnis davon, dass ich diese Welt gedanklich immer wieder durchgearbeitet habe, dass ich abstrahierte und wieder konkretisierte, immer auf der Suche nach einem roten Faden für andere und für mich.
Ich zog in ein Hausprojekt und sog die vielstimmige Radikalität auf, die ich dort antraf. Meine eigene Radikalität trug ich bei. Innerhalb kürzester Zeit formulierte ich Ansprüche an unser Zusammenleben, die weit über meine ursprünglichen Pläne hinausgingen. Auf einer Fahrt besprach ich mit meiner Freundin, ob und wie wir unsere Elternschaft mit einem bestimmten Mitbewohner gleichberechtigt teilen würden. Wir kannten ihn erst seit einigen Wochen, sahen aber grundsätzlich kein Hindernis, das unserer gemeinsamen Elternschaft im Weg stehen würde. (Wieder zurück, stellte sich heraus, dass wir ihn missverstanden hatten, er wollte gar nicht.)
Ich zog also in ein Hausprojekt. Das war eine gute Sache, soweit war ich mir sicher. Aber schnell ergab sich eine Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei der emotionalen und bei der praktischen Fürsorge für Kinder. Und eine Kluft zwischen den verschiedenen Ansprüchen der Erwachsenen ans Zusammenleben mit den Kindern.
Ich lebte nun mit meiner Familie in einem Hausprojekt. Manchmal nannten wir unser Miteinander auch Kommune. Ungeheure Möglichkeiten taten sich auf. Ich fühlte mich angeregt und aufgehoben. Und hätte als Erstes fast in die Wandheizung gebohrt. Es war auch mühselig.
Die Mühen der Care Revolution
Mühevoll war es, sich mit den anderen Erwachsenen über Kinder im Haus auszutauschen. Dabei fing das Zusammenleben gut an. Viele Erwachsene sprachen Kinder direkt an, anstatt mit deren Eltern über die Kinder zu reden. Sie taten das mit einer gewissen Entschlossenheit, die mir gegenüber die Forderung einbezog, mich nicht einzumischen. Das beschränkte meine elterliche Verantwortungs-Allmacht. Es stärkte die Kinder als eigenständige Personen. Es war fantastisch. Und gleichzeitig gab es Erwachsene, die gar nicht mit Kindern sprachen. Ich hatte das zuerst nicht bemerkt und nun empörte es mich. Zwar haben Kinder keinen Anspruch darauf, dass sich jede*r um sie kümmert, so argumentierte ich, sie dürfen aber jene Mindestkommunikation erwarten, wie sie zwischen allen anderen Mitbewohner*innen im Haus stattfindet. Diesen Blick auf Kinder als Mitbewohner*innen konnte ich mit der Zeit durchsetzen.
Kinder galten also als Mitbewohner*innen und führten eigene Beziehungen im Haus. Wir entwickelten die Regel, nach der sich beim Essen nur die erwachsene Person, die neben einem Kind sitzt, um dessen Essen und Lautstärke kümmert. Zu dieser Zeit kochten wir abwechselnd füreinander. Dann saßen wir um einen langen Tisch herum, warteten, bis sich alle gesetzt hatten, und gaben uns die Hände für: piep, piep, piep, bon appetit; nun erst aßen wir. Da wir uns noch nicht besonders gut kannten, verlief das Gespräch ebenso häufig angeregt wie es stockte. Aber dank unserer Regel verließ ich tatsächlich hin und wieder die Versorgungs-Verantwortung für mein Kind, jenen Sprung-Modus, in dem ich jederzeit bereit bin, einzugreifen.
Schwieriger wurden die Verhandlungen bei allem, was wir nicht zusammen machten. Aßen wir zusammen, dann räumten wir auch zusammen auf. Die Person, die ein Kind begleitete, räumte selbstverständlich etwas weniger Teller weg. Aber viele Mahlzeiten nahmen wir nicht zusammen ein. Immer weniger wurden es. Manchmal kochte jemand für sich, mein Kind kriegte davon was ab und ich räumte hinterher auf. Wenn ich allein Essen machte, räumte ich natürlich grundsätzlich alleine wieder auf. Andererseits räumten auch mir Leute hinterher. Vielleicht könnte man sagen, das gleiche sich aus, aber ich empfand es anders, weil nicht dieselben Leute aufräumten und liegen ließen.
Hier zeigte sich, wie unklar wirklich allen Mitbewohner*innen war, was Care Revolution in unserem Alltagsleben bedeuten könnte, mir vorneweg. Ich stelle mir vor, ich bin mein*e Mitbewohner*in, habe kein Kind und komme in die Küche. Unterm Kinderstuhl liegen Krümel. Nun habe ich mehrere Möglichkeiten, diese Krümel zu deuten. Ich kann mich über die rücksichtslosen Eltern ärgern, die ihren Dreck nicht wegräumen. Ich kann ein schlechtes Gewissen haben, weil ich nicht aus Care-Solidarität die Krümel wegkehre. Ich kann die Krümel gar nicht bemerken, weil ich jung, ungebunden und entspannt bin (und vielleicht auch dazu erzogen, dass Haushalt nicht meine Sache werden wird). Ich kann die Krümel bemerken, mich gestört fühlen, aber den Eltern Verständnis entgegenbringen – und ich kann die Krümel wegkehren, wiederum aus den verschiedensten Gründen. Ich, nun wieder Miriam-ich, bin ziemlich sicher, dass jeder dieser Gedanken im Haus schon mal gedacht wurde. Die unterschiedlichen Meinungen, die vertreten wurden, waren mir stets bewusst. Das hat mich belastet und öfter als nötig meine mit Kindern verbrachte Zeit stressig gemacht.
Natürlich sind wir mit unseren verschiedenen Vorstellungen aneinandergeraten. Ein wichtiges Thema war die Lautstärke der Kinder – normal sprechend, beim Aufstehen, beim Spielen. Hatten wir verschiedene Benimm-Standards oder verschieden viel Ahnung von Kindern? Umgekehrt war es für die Erwachsenen kein Problem, leise zu sein, damit die Kinder schlafen können. Aber dass die Kaffeemühle am Morgen lauter rumorte als die sich überschlagenden Kinderstimmen, haben die meisten gar nicht bemerkt.
Ohne gemeinsames Abendbrot oder andere Gruppentreffen funktionierte der Kontakt zwischen Kind und Erwachsenen weniger spontan. Beim Abendbrot konnten sich Kinder und Erwachsene gegenseitig finden. Diese Spontanität funktioniert tagsüber nicht unter den gleichen Voraussetzungen, denn ich stand jederzeit als Ersatz bereit: Ein kleines Kind kann nicht alleine sein, falls die freien Erwachsenen gerade keine Zeit haben. Und solange wir nicht mit der ganzen Gruppe zum Abendbrot oder für einen Ausflug verabredet waren, wusste niemand sonst, wann es Zeit fürs Losgehen war, fürs Abendbrot, fürs Zähneputzen. So ergab sich eine Kluft zwischen dem, was andere zu tun meinten, und dem, was ich darin sah – alle aber nahmen wahr, dass wir einander kennenlernten.
Getrennte Welten
Fast wie im Hausprojekte-Bilderbuch konnte ich zeitweise an den meisten Türen klopfen, um zu fragen, ob ein Mensch Zeit hat, zu spielen oder ein Baby auf den Arm zu nehmen. Manche Kinder haben auch selber geguckt und sind durchs Haus gezogen. Gleich mehrere Menschen haben sich regelmäßig mit Kindern verabredet, manche dieser Verabredungen galten wöchentlich, über ein halbes Jahr hinweg. Einige Monate lang haben wir jeden Morgen zusammen mit einem Mitbewohner gefrühstückt, andere waren spontan für eine andere gemeinsame Mahlzeit zu haben.
Die Gründe der Erwachsenen, sich mit Kindern zu befassen, waren unterschiedlich. Es gab spontanen Kontakt, persönliche, wunderschöne Freundschaften zwischen Erwachsenen und Kindern. Dabei fühlte ich mich allerdings hin und wieder zur allgemeinen Mutter gemacht, die nach dem Spielen aufräumt. Andere Leute haben das in meinen Augen komplette Paket der Aufgaben ernst genommen: Tisch abwischen, spielen, Streit begleiten. Einige Kommunard*innen betonten die politischen Gründe für ihr Engagement, Einsicht in die Notwendigkeit einer Care Revolution. Ich fand das gut. Von den Menschen, die in Übereinstimmung oder auch im Widerspruch zu ihrer politischen Haltung gar keinen Kontakt zu den jüngeren Mitbewohner*innen aufgenommen haben, hatten dennoch einige einen Blick für akute Aufgaben, wenn diese sich stellten (»Soll ich was tragen?«).
Mehrere Erwachsene überforderten sich. Sie machten Angebote, denen sie langfristig nicht gewachsen waren: ein verbindlicher Teil im Leben eines Kindes werden. Eine regelmäßige Verabredung treffen. Wahrscheinlich hat der politische Anspruch, der im Raum stand, Druck ausgeübt oder Illusionen genährt. Mehrere Leute sind richtiggehend weggebrochen, nachdem sie eine Zeit lang sehr viel Zeit mit einem Kind verbracht haben. Ich habe gelernt, Angebote sehr gründlich zu besprechen: Ein belegter Nachmittag in der Woche für einen kinderlosen Menschen klingt vielleicht harmlos, ist es aber nicht. Er steht quer zu Lohnarbeit, zu politischem Aktivismus, zu Reisen oder zu Mobilität. Vielleicht ist es auch bedenklich für ein ausgeglichenes Selbstbild, wenn sich der eine Nachmittag mit Kind in der Woche zum Angelpunkt der selbstgestalteten Zeit entwickelt. Alle Eltern, die ich kenne, hatten wie auch ich eine Zeit ungebundener Freiheit. Werden Menschen in die Organisation rund ums Kind eingebunden, müssen sie auf diese Zeit teilweise verzichten. Da ich selbst meine Freiheit so genossen habe, finde ich es ungerecht, anderen mehr abzuverlangen als mir selbst – und dass, obwohl ich überzeugt bin: Es wäre für alle besser, wenn jeder Mensch in Fürsorgeaufgaben eingebunden wäre.
Ein weiteres Hindernis für Care-Verabredungen zwischen den Erwachsenen findet sich bei den verabredeten Treffen selbst. Sympathie zwischen Kindern und Erwachsenen lässt sich nicht planen. Ein Kind berechnet nicht die investierten Stunden des Erwachsenen und leitet im Tausch die Liebe ab, die es fühlt. Es reagiert auf Erwachsene, so wie Erwachsene emotional auch auf Kinder reagieren: persönlich, spontan. Mitunter wurden Menschen, die für einen regelmäßigen Termin kamen, weniger jubelnd empfangen als solche, die gelegentlich in ein Spiel eintauchten. Aus meiner Sicht war der regelmäßige Termin Gold wert (oh, das ist nicht das treffende Bild, aber ich finde gerade kein anderes), aber neben mir existierten eben noch gleichwertige Perspektiven.
Jedenfalls fanden alle regelmäßigen Treffen mit Erwachsenen im Haus, die keine eigenen Kinder hatten, ein Ende. Ich finde dafür viele Gründe und denke, man sollte nicht denen, die am meisten tun, übelnehmen, was sie dann nicht mehr tun. Aber mit dem Wechsel umzugehen, fiel mir niemals leicht.
Das Gegenmodell, spontane Begegnung, hat aber ebenfalls seine Tücken. Oft sind wir uns nämlich eben nicht begegnet. Das Leben junger Erwachsener widerspricht der Logik eines Kinder-Tagesablaufs. Erwachsene leben unregelmäßiger und später am Tag, als die Kita beginnt. Sie besuchen andere Orte als Kinder. Sie kennen andere Menschen mit anderen Gewohnheiten als Eltern.
Ich schreibe: Wir sind uns ja gar nicht begegnet, und weiß doch, dass ich von sehr unterschiedlichen Menschen schreibe. Die meisten zufälligen Begegnungen waren ja schön für mich. Und natürlich bin ich Menschen begegnet, unentwegt. Allerdings wechselten die Menschen, die ich häufig traf, einander ab. Ich vermute, niemand hat die Gäste so gut kennengelernt wie ich, die ich regelmäßig mit Kind am Küchentisch saß.
Hilfreich waren die spontanen Treffen nicht. Zwar bekam ich oft Hilfe beim Tischdecken und Mund-sauber-Machen, aber dabei wurde meine Aufmerksamkeit weg vom Kind, hin zur Mitbewohner*in oder zum Gast abgezogen. Das konnte stressig sein. Wenn sich zum Beispiel ein Gast beim Essen dazusetzte oder sich, schlimmer noch, neben den Tisch stellte und zu einer Unterhaltung mit mir ansetzte, als wäre mein Kind gar nicht dabei. Eine allgemeine Frage zu Hausprojekten stellte zum Beispiel.
Wenn wir uns aber zusammensetzten, fanden Begegnungen statt, die für mein Kind sehr wichtig waren. Es liebte unsere gemeinsamen Unterhaltungen mit Mitbewohner*innen und lernte geniale Leute kennen. Diese Treffen waren für uns nicht nützlich, sondern wertvoll. Es war unser Zuhause.
Es war gut, einander zu kennen, auch für mich.
Vielleicht wären die schönen Momente noch schöner geworden, wenn ich sie besser hätte einordnen können. Bist du hier, um mir beizustehen? Oder bist du ein*e Freund*in für mich, oder für mein Kind? Beides? Warum hat sich dein Verhalten verändert? – Es gibt eine Mitbewohnerin, die für mich zum Symbol für mühelose Begegnungen geworden ist. Sie kündigte niemals an, mit mir zusammen die Kleinfamilienstruktur aufzubrechen, denn sie hatte sich für ein Leben entschieden, in das eigene Kinder auf keinen Fall passten. Sie wollte also auch keine verbindliche Rolle für irgendjemanden einnehmen. Sie vermittelte mir aber ohne Ambivalenz, dass meine Entscheidung für Kinder ebenso legitim sei. Sie verstand sich gut mit den Kindern und half mir spontan bei dem, was ich tat. Ich überlegte nicht, wie sie das meinte. Ich hoffte nicht, dass sich daraus etwas entwickeln würde. Ich konnte die schönen Momente annehmen und genießen, weil ich sie einordnen konnte.
Dennoch, Mitbewohner*innen, die sich über Zufälle freuen, sind etwas anderes als gemeinsame Organisierung. Ich fand meine Gemeinschaft an anderer Stelle und etablierte mit weiteren Eltern und Kindern einen familiär anmutenden Zusammenhang, der sehr verbindlich war und sich auf unseren Alltag und unsere Freundschaft stützte.
Damit ergaben sich praktisch keine zufälligen Begegnungen in der Küche mehr, wie sie bisher stattgefunden hatten. Über Nacht wurden Kinder zum Unterscheidungsmerkmal von zwei einander gegenüberstehenden Lagern. Ich spürte, dass Mitbewohner*innen auf meinen neu geschaffenen Zusammenhang mitunter misstrauisch und feindselig reagierten. Eine Freundin von mir zog der Gruppenentscheidung zum Trotz mit ihrem Kind zu ihrem Partner in das Haus ein. In der nun folgenden eskalierenden Dynamik warfen meine Freund*innen den anderen Hausbewohner*innen vor, dass sie ihr Leben nicht auf Kinder ausrichteten. Sie forderten das Haus auf, den Eltern Platz zu machen oder sich uns anzupassen, und von mir, diese Forderung mit zu vertreten. Ich sah zwei sich formierende Parteien und fand beider Positionen falsch, was offenbar ebenfalls für niemanden hilfreich war. Es wurde ein langer, entzweiender Streit. So wichtig die Themen sind, die unser Streit bearbeitete, so erklärungsbedürftig sind dennoch die drastischen Mittel, zu denen die Beteiligten griffen.
Wofür Kinder stehen: Erfahrungen und Verletzungen
Wir unterschätzten die Kraft unserer eigenen Lebensgeschichten nicht erst bei diesem Streit.
Die Erwachsenen im Haus lebten mit den schönen Erfahrungen und mit den Verletzungen, die sie in ihrem bisherigen Leben gesammelt hatten. Ich auch. Manches davon hatten wir als Kinder erlebt; anderes als Erwachsene.
Die Erfahrung prägte unsere Blickwinkel auf die Kinder im Haus. Es gab Erwachsene, die für ein Kind hatten sorgen wollen, denen dieses Kind aber genommen worden war. Andere, die fürchteten, kein leibliches Kind bekommen zu können. Es gab Menschen, die als Kind schlecht behandelt worden waren. Einige hatten seit dem Ende ihrer eigenen Kindheit niemals wieder ein Kind getroffen (das wird es sicher in Zukunft öfter geben, weil Kinder so getrennt von kinderlosen Erwachsenen aufwachsen). Jemand war überwältigt von der eigenen Elternschaft. Jemand fühlte sich selbst als Kind. Und wir alle waren auf der Suche nach dem Leben, das wir führen wollten.
Die Erfahrung wirkte sich auch auf unseren Blick auf unsere Gemeinschaft aus. Mir fiel das bei unserem Einzug auf, als nicht alle Mitbewohner*innen sich vornahmen, eine gute Beziehung zu meinem Kind aufzubauen, und zwar zu meiner Überraschung auch jene Erwachsenen nicht, die sich manchmal mit den bisher im Haus lebenden Kindern verabredeten. Einige setzten im Gegenteil ihre Beziehungen zu den verschiedenen Kindern in Konkurrenz zueinander. Ich dagegen hätte gedacht, wer Kinder auf dem Schirm hat, sucht zu allen Kindern, die zusammenleben, Kontakt. Das liegt daran, dass ich die Kinder gedanklich mit Geschwistern verglich und mir wünschte, dass sie entsprechend gerecht behandelt werden sollten. Das Haus, merkte ich irgendwann, stellte ich mir als erweiterte, politisierte Familie vor. Einige meiner Kommunard*innen dagegen waren aus ihren Familien ausgerissen. Ihr Ziel war es, eine Anti-Familie zu etablieren. Was das sein könnte, lag außerhalb meiner Vorstellungskraft. Wenn ich wütend war, nannte ich das Resultat: Jugendherberge.
Die Gefühle, die ebenso oft vorhersehbar wie überraschend ans Licht traten, standen mitunter im Widerspruch zur eigenen Überzeugung. Ihre Ursachen lagen zu tief, als dass wir sie zur Diskussion hätten stellen mögen. Oft bildeten solche Gefühle eine stumme Grenze für unsere Gemeinschaft. Oder es kam vor, dass ein*e Mitbewohner*in Gefühle als Grenze ihrer Möglichkeiten formulierte und wir versuchten, diese Grenze unhinterfragt einzuhalten. Zum Beispiel: »Ich möchte nicht mit einer Hetero-Verbindung aus Vater-Mutter-Kind zusammenwohnen, weil ich, anders als ich dachte, nicht hetero bin, sondern lesbisch und mich dieser Selbsterkenntnis erst mal ungestört widmen möchte.« Wir konnten diesem Wunsch damals folgen. Doch als Handlungsanweisung funktionieren persönliche Verletzungen auf Dauer nicht; dafür sind sie zu widersprüchlich und zu ungerecht.
In einigen Gesprächen zogen wir unsere Erfahrungen vorsichtig heran, ohne sie infrage zu stellen und ohne im Gegenzug andere Positionen zu beugen. Mir hat das sehr geholfen, um im Kontakt mit meinen Mitbewohner*innen zu bleiben. Aber wir fanden dabei nicht heraus, was wir gemeinsam tun konnten.
Nicht unsere Überzeugungen, sondern unsere Gefühle und Verletzungen standen uns dabei im Weg, ein gutes Zusammenleben für alle zu finden. Die Kluft zwischen unseren unterschiedlichen Ansprüchen kam zur Sprache und ließ sich aushandeln. Aber Gefühle verursachten die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, an der wir scheiterten.
Am Ende stand meine Romantik, mein Wunsch, meinem Kind einen Entwurf für schönes, kollektives politisches Leben anzubieten, unerfüllt neben den unerfüllten Wünschen der anderen.
Autor*in:
Miriam liebt Kinder und Kapitalismuskritik. Sie wundert sich über die Hartnäckigkeit, mit der sie das Kinder-Thema in ihrem Hausprojekt eingebracht hat. Im Moment wohnt sie in einer liebevollen WG, die sich aus drei Erwachsenen und drei Kindern zusammensetzt.