Jenseits des Kerns – außerfamiliäre Beziehungen von Kindern und Erwachsenen

eine Serie von Maria

In unserem Text „Welche Schuld hättest du gerne?“ machen Nicola und ich uns Gedanken darum, wie man gegen Antifeminismus und Adultismus angehen kann, ohne dabei an den vermeintlichen Widersprüchen zu zerbrechen, die uns täglich vor die Füße geworfen werden. Unsere Lösung ist so einfach wie utopisch: Sie besteht in einer Gesellschaft, in der alle Menschen aktiv daran mitarbeiten, diese – und alle anderen – Diskriminierungsformen aktiv zu bekämpfen, und in der alle Menschen sich darüber im Klaren sind, dass sie ihr Leben lang im Rahmen ihrer Möglichkeiten Verantwortung für andere Menschen übernehmen müssen, wenn sie in einer gerechten und funktionierenden Gesellschaft leben wollen.

Der Satz „Kinder brauchen ihre Mutter“ ist problematisch, wie wir wissen. Viele Menschen würden den dahinterstehenden Gedanken heute vielleicht lieber so formulieren: „Kinder brauchen Erwachsene, die die Verantwortung für ihr Wohlergehen übernehmen.“. Damit erkennen sie schon mal an, dass nicht nur die Mutter oder nur die Eltern rund um die Uhr diese Verantwortung tragen müssen, dass es verschiedene Familienmodelle gibt, die alle ihre Berechtigung haben, und sie erkennen an, dass Kinder ein Recht darauf haben, dass auch dann ihre Bedürfnisse gewahrt werden, wenn sie selbst ihre Rechte gegenüber Erwachsenen noch nicht durchsetzen können.

Trotzdem greift dieser Satz zu kurz. Denn er geht weiterhin davon aus, dass es einerseits Menschen gibt, die selbstständig sind und Verantwortung für andere übernehmen können, und andererseits welche, für die gesorgt werden muss. Was aber sind selbstständige Menschen? Der Kreis derer, denen dieses Attribut zugeschrieben wird, scheint sich stetig zu verkleinern. Es genügt eigentlich nicht, erwachsen zu sein – man muss auch (in einer immer prekärer werdenden sozialpolitischen Gemengelage) seinen eigenen Wohnraum und Lebensstil finanzieren können; man sollte in der Lage sein, für sich selbst zu kochen und zu putzen (oder so viel Geld zur Verfügung haben, dass man andere dafür bezahlen kann), und es scheint im Raum zu stehen, dass eigentlich nur der*die selbstständig ist, der*die es nicht nötig hat, jemals im direkten Kontakt mit anderen Menschen zu stehen. Eigentlich steht dahinter die Idee, dass ein selbstständiger Mensch nur die Leistungen anderer Menschen braucht, die er*sie bezahlen kann. Welche Leistungen von wem bezahlbar sind, ist jedoch eine Frage gesellschaftlicher Machtstrukturen – und darum eine Illusion. Warum gelten wir nicht als abhängig, wenn wir unser Essen und unsere Kleidung nicht selbst produzieren, aber durchaus als abhängig, wenn wir sie nicht selbst bezahlen? Wenn ein*e Erwachsene*r genügend Macht und Geld zur Verfügung hat, muss er*sie möglicherweise ebenso wenig Verantwortung für die Organisation seines körperlichen Wohlbefindens übernehmen, wie ein sechsjähriges Kind, das überhaupt nicht als selbstständig gilt.

Eigentlich muss es also heißen: „Alle Menschen brauchen andere Menschen, die für ihr Wohlergehen Verantwortung übernehmen.“. Umgekehrt bedeutet dies, dass jeder Mensch nach seinen Möglichkeiten Verantwortung für seine Gemeinschaft übernehmen muss – und in dieser Formulierung können damit wirklich alle Menschen eingeschlossen sein. Denn selbst ein neugeborenes Kind trägt bereits nach seinen Möglichkeiten Sorge für das Wohlergehen seiner Mitmenschen: Allein schon indem es ausdrückt, ob es ihm gut geht oder nicht, trägt es zum Gelingen seiner Gemeinschaft bei. Der Grundgedanke: Welche Aufgaben müssen alle erledigt werden, damit es allen in dem aktuellen Kontext Beteiligten gut geht? Davon ausgehend kann man dann fragen: welche Aufgaben davon kann ich übernehmen? Welche Aufgaben werden bereits von anderen Personen übernommen? In dieser Denkrichtung ist es möglich und wichtig, anzuerkennen, welche wichtigen Aufgaben jeden Tag auch von jenen übernommen werden, die in unserer Gesellschaft als abhängig (und damit als weniger wertvoll) definiert werden.

Diese Denkrichtung geht auch weg von der Idee, dass ein oder zwei Menschen „die Verantwortung“ für ein Kind „haben“, und für die Abdeckung aller möglichen Bedürfnisse zuständig sind, die sich in den mindestens ersten 18 Jahren seines Lebens überhaupt ergeben können. Denn eine solche Verantwortung kann niemand ernsthaft guten Gewissens eingehen. Ich bin für eine geteilte Verantwortung, die Menschen immer wieder frei übernehmen können. Damit aber nicht die Situation entsteht, dass sich plötzlich niemand zuständig fühlt, braucht es eine Gesellschaft, in der Verantwortungen für die Erfüllung verschiedener wichtiger Bedürfnisse auf viele Schultern verteilt sind. Und in der alle daran mitwirken.

Ich plädiere weiterhin dafür, dass alle Kinder ein stabiles und vielfältiges Geflecht persönlicher Beziehungen haben sollten, die jeweils einen kleinen Teil dessen, was als „Verantwortung für ein Kind“ bezeichnet wird, übernehmen.

Wie können wir uns aber auf den Weg in diese Utopie machen? Ich glaube: indem wir zunächst einmal danach schauen, welche Beziehungsgeflechte Kindern heute schon haben. Welche Erwachsenen sind eigentlich bereits heute Teil des Lebens von Kindern – abgesehen von der Kernfamilie? Welche wichtigen Rollen spielen sie für die Entwicklung, Sicherheit, Horizonterweiterung, Lebensfreude von Kindern? In dieser Serie möchte ich einige solcher Beziehungen vorstellen, wie sie heute schon existieren. Ich möchte einen neuen Blick auf Menschen werfen, die eine Bereicherung füreinander sind – jenseits der gesetzlich definierten Kernfamilie.

Autor*in:

Maria denkt gerne über die Welt nach. Je länger sie in der Welt ist, desto mehr Widersprüche begegnen ihr dabei, und die interessieren sie weiterhin besonders – obwohl sie es irgendwann nach einer vagen Idee sofort aufgegeben hat, über Überzegungsänderungen und den Umgang mit Widersprüchen eine Doktorarbeit zu schreiben, weil das Leben viel mehr zu bieten hat als einen Schreibtisch.

Maria schrieb auf diesem Blog bisher den Text Mütter gegen Kinder?.

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