Ich plädiere weiterhin dafür, dass alle Kinder ein stabiles und vielfältiges Geflecht persönlicher Beziehungen haben sollten, die jeweils einen kleinen Teil dessen, was als „Verantwortung für ein Kind“ bezeichnet wird, übernehmen. Wie können wir uns aber auf den Weg in diese Utopie machen?
Indem wir zunächst einmal danach schauen, welche Beziehungsgeflechte Kindern heute schon haben. Welche Erwachsenen sind eigentlich bereits heute Teil des Lebens von Kindern – abgesehen von der Kernfamilie? Welche wichtigen Rollen spielen sie für die Entwicklung, Sicherheit, Horizonterweiterung, Lebensfreude von Kindern? In dieser Serie möchte ich einige solcher Beziehungen vorstellen, wie sie heute schon existieren. Ich möchte einen neuen Blick auf Menschen werfen, die eine Bereicherung füreinander sind – jenseits der gesetzlich definierten Kernfamilie.
Wie ich es schon erwartet hatte, stieß ich bei meiner Suche nach Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern jenseits der Kernfamilie zuerst auf gleich zwei Patinnen mit ihren Patentöchtern.
Eine Kommentatorin hat das auf dieser Seite bereits sehr treffend formuliert: „Patenschaften sind eine Anerkennung der Einsicht, dass Eltern alleine die Erziehung nicht schaffen können – das Kind wird formal in die Gemeinschaft mitaufgenommen, die Eltern sind nicht mehr alleine verantwortlich.“
Diese Beziehung hat außerdem einen Namen. Auch in einem Alter, in dem das Kind noch keine Vorstellung davon hat, was Patenschaften sind, weiß es schon: Der*die ist „meine*r“. Das gibt der Beziehung von Anfang an einen Status, den alle anerkennen – und damit eine Existenz über Orts- und Zeitveränderungen hinweg.
Bei Nachbar*innen oder Eltern der besten Freund*innen besteht vielleicht auch eine persönliche Beziehung zu dem Kind, aber da diese keinen eigenen Namen hat, ist den Beteiligten wahrscheinlich oft nicht klar, dass dies eine Beziehung, ein Auftrag, eine Ressource, ein Teil der eigenen Geschichte ist.
Fangen wir also an mit zwei Beispielen, die die Tradition auf ihrer Seite haben, die aber auch als Ansporn verstanden werden können, neue Begriffe und neue Modelle zu entwickeln.
Hanna und Katrin
Könnt ihr euch kurz gegenseitig vorstellen?
Hanna: Katrin ist meine Taufpatin. Aber sie ist noch viel mehr für mich, sie ist auch meine Familie, obwohl wir nicht verwandt sind. Und sie ist (neben meinen Eltern) die erwachsene Ansprechperson, wenn ich Probleme habe. Sie ist eine Person, die ich sehr lieb habe und von der ich weiß, dass sie mich auch sehr lieb hat.
Katrin: Weil Hanna mein Patenkind ist, darf ich Patin sein. Es erfüllt mich immer wieder mit Stolz, Glück und Dankbarkeit, dass ich tatsächlich als Patin ausgesucht wurde.
Wann und wie habt ihr euch kennengelernt?
Hanna: Wir haben uns kennengelernt als ich noch ein Baby war, aber eigentlich schon vorher, weil Katrin den Bauch meiner Mutter angemalt hat, als sie mit mir schwanger war. Eine Erinnerung an die ersten Male, die wir uns gesehen haben, habe ich nicht. Aber eine der ersten war, als wir im Wohnzimmer bei mir auf dem Boden saßen und auf meinem Xylophon sehr laut gespielt haben. Als ich meine Mutter danach gefragt habe, meinte sie, dass Katrin und ich auch sehr laut gesungen haben, aber das weiß ich nicht mehr.
Katrin: Ich weiß, dass ich im Zug saß und von Hannas Papa erfahren habe, dass Jakob nun endlich auf der Welt ist und dass Jakob nun doch eine Hanna geworden ist. Ich habe Hanna das erste Mal als Neugeborenes gleich wenige Tage nach ihrer Geburt zu einem leider sehr traurigen Anlass gesehen und im Arm gehalten, nämlich zur Beerdigung ihrer Oma. Sowohl diese Situation als auch das Telefonat habe ich sehr klar vor Augen.
Wie oft seht ihr euch?
Katrin: Ich schätze mal alle 8 bis 10 Wochen.
Hanna: Vielleicht so 5 Mal im Jahr. Aber diesen Sommer haben wir uns lange gesehen, weil wir zusammen Zelten waren.
Wie verbringt ihr Zeit miteinander?
Katrin: Eigentlich viel zu wenig. Immer wenn ich Hanna besuche, besuche ich auch ihre Mama, eine meiner besten und engsten Freundinnen. Hanna ist dann meisten die erste Zeit dabei und nimmt einfach an der Unterhaltung teil. Das ist sehr einfach, schön und ungezwungen. Irgendwann verzieht sie sich dann in ihr Zimmer.
Hanna: Wir sitzen zusammen und quatschen oder jetzt noch ganz aktuell waren wir im August zusammen Zelten.
Katrin: Das war ein total schönes Erlebnis! Hanna war mit meiner Familie, ein paar Freunden und ihrer Freundin ein paar Tage beim Zelten. Ohne viel Planung im Voraus waren es ganz unkomplizierte Tage. Hanna war einfach da. Ich weiß nicht wie ich es sagen soll, aber ohne das Gefühl zu haben, ihr etwas bieten zu müssen oder sie bei Laune zu halten, haben wir schöne Tage zusammen verbracht.
Hanna: Vor etwa 2 Jahren war ich mit ihr und ihrer Familie im Europapark, das war auch sehr schön.
Wie hat sich euer Kontakt im Lauf der Zeit geändert/entwickelt?
Hanna: Wir haben uns von Anfang an sehr gut verstanden und daran hat sich auch nie etwas geändert. Früher haben wir zusammen gespielt, jetzt reden wir miteinander und sie weiß auch Bescheid, wenn irgendwas bei mir nicht so läuft.
Katrin: Hanna weiß auch von manchen Dingen, die in meinem Leben nicht ganz rund laufen. Ich glaube oder hoffe, dass sie weiß, dass sie mir vertrauen kann. Ich würde sagen, unser Verhältnis war schon immer völlig ungezwungen und die Zeit beim Zelten hat das auf ganzer Linie bestätigt. Aber sie ist mittlerweile fast schon ein bisschen erwachsen. Sie stellt mir zum Beispiel Erwachsenen-Fragen und ich antworte ihr darauf auch größtenteils wie ich einem Erwachsenem antworten würde.
Was ist eine besondere Sache, die ihr nur oder besonders gut miteinander machen könnt?
Hanna: Besonders gut campen, weil: ich weiß nicht, ob das so gut mit anderen Erwachsenen klappt.
Katrin: Ich habe spontan eine ganz konkrete Sache im Kopf und weiß nicht so recht wie es sie beschreiben soll. Hanna agiert und redet anders als ich. Klar, da gibt es ja auch einen Altersunterschied von 32 Jahren! Wenn Hanna aber in ihrer Sprache, in ihrer Ausdrucksweise spricht, einen Witz macht oder auch mal lästert, kann ich einsteigen, ohne, wie soll ich sagen, völlig aus der Erwachsenenrolle auszusteigen und ohne mich völlig in die Teenagerrolle hinein zu begeben.
Hanna, Was hast du von Katrin gelernt?
Hanna: Dass man auch zurück hauen darf!
Und was hast du von Hanna gelernt?
Katrin: Auch wenn es Dinge in Hannas Leben gibt, die sie verunsichern, ist sie ein Mädchen, das ihren Mund aufmacht, das selbstbewusst ist. Hanna diskutiert, hält mit ihrer Meinung dagegen, wenn sie eine andere Meinung hat. Das ist wichtig. Immer und in jedem Alter – auch in meinem. Hanna erinnert mich mit ihrer Art immer mal wieder daran.
Was würde euch ohne einander fehlen?
Katrin: Na, mein Patenkind!
Hanna: Ohne Katrin würde mir eine Person fehlen, die ich schon immer kenne und die einer der vertrautesten Menschen für mich ist.
Katrin: Mir würde ein Mädchen fehlen, das immer, wenn wir uns sehen, mich strahlend begrüßt, mir um den Hals fällt, mich fest in den Arm nimmt und mir ein echtes „Ich freu‘ mich so sehr, dass du da bist“-Gefühl vermittelt.
Was ist manchmal schwierig oder blöd zwischen euch?
Hanna: Weiß ich nicht…
Katrin: Nichts, außer der Entfernung. Ich stelle mir vor, Hanna könnte manchmal mit dem Rad zu mir fahren. Dann könnten wir ab und zu mal einen Tee, eine Limo oder manchmal sogar im Sommer ein Radler (oder was die jungen Leute halt so mögen) zusammen trinken.
Wie stellst du dir Katrin als Kind vor?
Hanna: Ich denke, Katrin war als Kind schon sehr hilfsbereit. Ich weiß, dass sie sehr viel Verantwortung übernehmen musste, und ich denke, dass sie das wirklich gut gemacht hat. Ich weiß auch, dass sie eine gute Freundin war, weil sie da schon die beste Freundin meiner Mutter war.
Und wie stellst du dir Hanna als Erwachsene vor?
Katrin: Sportlich in Jeans, Pulli und Sneakers. Ein bisschen frech und sehr lebenslustig. Sehr natürlich und sich nicht um irgendwelche unsinnigen Regeln kümmernd. Mutig und gerade heraus.
Was sagen andere über eure Beziehung?
Katrin: Ich muss erneut auf die Zeit beim Zelten zurück kommen. Kurz darauf hat tatsächlich ein Freund, der mit dabei war, unserer Beziehung zueinander erwähnt: „Ihr wart so vertraut und herzlich in eurem Umgang miteinander, so als ob ihr auch im Alltag ständig in engem Kontakt steht und es die räumliche Trennung eigentlich gar nicht gibt.“ Das macht mich sehr stolz auf mich und auf Hanna.
Was ist typisch für Katrin?
Hanna: Dass sie sehr emotional ist. Dass sie mir immer sagt, dass ich das beste Patenkind bin, obwohl sie nur eins hat – und sie meint es auch so. Und dass sie andere so sehr wertschätzt – sie ist so klug und lässt das nie raushängen. Ich mag, dass ich mich auf sie verlassen kann und dass wir gut miteinander reden können. Sie interessiert sich ernsthaft für mein Leben und hört mir zu. Ich mag auch, dass sie mir das Gefühl gibt und mir auch sagt, dass sie mich lieb hat.
Und was magst du an Hanna?
Katrin: Genau das, was so typisch an ihr ist. Hanna ist ehrlich und natürlich. Auch wenn das sicherlich nicht immer so ist, schert sie sie doch die meiste Zeit recht wenig darum, was andere von ihr denken. Sie nimmt mich manchmal auf den Arm, ohne dass es respektlos ist und ohne dass ich ihr böse bin. Und sie ist lustig. Ich stelle mir vor wie sie ihre Freunde um sich schart. Wie es damals vor 40 Jahren schon ihre Mama getan hat. Und noch etwas muss ich sagen: Dass ich als Patin ausgesucht wurde, ist die eine Sache. Allein das ist schon echt was Großes. Dass mein Patenkind aber so ist, wie es ist, und dass unsere Beziehung so ist wie sie ist, ist eine ganz andere. Eine Sache, zu der nicht nur Hanna und ich, sondern auch ihre Familie beigetragen hat. Eine Sache, die mein Leben sehr reich macht.